Entschleunigung in Weiß

Das Oberengadin ist ein Langlauf-Traum. Bis weit ins Frühjahr sind hier die Loipen gespurt und bestens präpariert.

  • Braunbär in Hokkaido, Japan
  • Braunbär in Hokkaido, Japan

Ein aus­geklügeltes Wege­­netz erschließt im alpinen Hoch­tal des Oberengadins eine mehr­­tägige ­Wandertour – auf Langlaufski!

Die Gipfel strahlen in der Sonne. Perfekt gespurt scheint die Loipe ihnen entgegenzustreben. Unter uns ruht, vereist und mit Schnee eingehüllt, der Silsersee. Es ist eine legendäre Loipe, über die wir an diesem Märzmorgen im Oberengadin gleiten. Vom Malojapass aus verläuft sie sanft abwärts über den gefrorenen Silser- und Silvaplanersee, vorbei an St. Moritz und durchs ­steile Auf und Ab des Stazerwalds bis nach S-chanf. Es ist die Weg­strecke des Engadiner Skimarathons, auf der wir an diesem Morgen unterwegs sind. Über gut 42 Kilometer führt das zweitgrößte Skilanglaufrennen der Welt. Doch für uns ist seine ­Strecke nur ein Etappenziel. Wir haben mehr vor. Was im Sommer mit Wanderschuhen funktioniert, geht im Winter im Engadin mit Langlaufski: Weitlanglaufen statt Weitwandern. Der Abschnitt des Skimarathons ist Teil der Gesamt­strecke. Unsere Wandertour auf Langlaufski führt uns vom Oberengadin hinunter bis ins Unterengadin. Mehr als 90 Kilometer wollen wir so von Unterkunft zu Unterkunft laufen. Vorbei an Bergriesen und historischen Orten – inklusive Einkehrschwung auf ein Stück typische Engadiner Nusstorte.

»Was im Sommer mit Wanderschuhen funktioniert, geht im Winter mit Langlaufski: Weitlanglaufen statt Weitwandern.«

Am ersten Tag lassen wir nicht nur St. Moritz, sondern auch den Rummel der Skimarathon-Strecke hinter uns – und tauchen ein in die Stille. Laufen, schauen, staunen: Für Langläufer:innen ist das Engadin mit seinen rund 220 Loipenkilometern ein Paradies. Das Streckenprofil ist einfach, Ausflüge in die Seitentäler – ­idyllisch ins Roseg-Tal oder anspruchsvoll ins Val Fex – peppen die Tour nach Belieben um Höhen und Kilometer sowie um prachtvolle Einblicke etwa in die Bernina-Gruppe auf. Zu verfehlen ist unsere Route dabei nie: Immer entlang des Inns führt die Spur. Wo wir nicht mehr weiterlaufen können oder mögen, weil wir uns einen Ort anschauen möchten, steigen wir in die Rhätische Bahn, deren Bahnhöfe von der Loipe stets gut ­erreichbar sind. Arme und Beine finden ihren Rhythmus. Auf unserem Weg von Celerina nach Zuoz haben wir die Loipe meist für uns allein. Wenig ist zu hören. Nur das Knirschen der Eiskristalle, das Surren der Ski. Atemwolken steigen weiß vor dem Mund auf, prickelnd fließt das Blut durch den Körper. Das Gefühl für Zeit und Raum verliert sich in der Gleichmäßigkeit der Bewegung, während das Auge sich nicht sattsehen kann an der Pracht der Berge. Majestäten in Weiß, deren rätoromanischer Familien­name Piz – für Berg – wie ein Adelstitel klingt. Da schau, der Piz Corvatsch. Und dort, der Piz Palü. Am dritten Tag überschreiten wir bei Zernez auf 1474 Metern die Grenze vom Ober- zum Unterengadin und tauchen damit ein in eine andere Schweiz. Haben wir in Maloja noch die unglaubliche Weite des Tals bestaunt, bemerken wir, wie hier alles enger und wilder wird. Am Ende jedes Tags, wenn wir bei ­Kaffee und Kuchen die Erlebnisse Revue passieren lassen, wird uns die Vielfalt des Oberengadins ­bewusst, die mit jedem erlaufenen Kilometer deutlicher zutage tritt.

»Wenig ist zu hören. Nur das Knirschen der Eiskristalle, das Surren der Ski. Atemwolken steigen weiß vor dem Mund auf, prickelnd fließt das Blut durch den Körper.«

Reisetipp: IN DER RICHTIGEN SPUR –  LANGLAUFEN IM OBERENGADIN

Das Loipennetz im Oberengadin ist das größte in der Schweiz und zählt auch landschaftlich zu den schönsten überhaupt. Egal, ob du über gefrorene Seen gleitest, durch verschneite Wälder läufst oder in idyllische Seitentäler eintauchst – hier findest du alles, was das Herz eines Langlaufbegeisterten höherschlagen lässt: erstklassige Loipen, Schneesicherheit, abwechslungsreiche Topografien und eine beeindruckende Landschaftsvielfalt, die genauso viel Ausdauer verlangt wie das Langlaufen selbst. Keine Sorge, wenn du wiederkommen möchtest – das Engadin lädt immer wieder zu neuen Entdeckungen ein!


TEXT: Andrea Mertes FOTOS: Ulrike Frömel, Filip Zuan

Dieser Beitrag ist Teil des

Globetrotter Magazin #34, Herbst/Winter 2024

Das Globetrotter Magazin #34 ist da – mit großen Touren und kleinen Alttagsfluchten: Wir wünschen eine gute Reise!
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