Georgien entdecken

Von Natur aus gut

Georgiens wechselvolle Geschichte lässt sich in Oberswanetien erwandern. ­Und die ungezähmte Natur hat immer eine Überraschung parat.

Georgien Wandern

Wander-Infrastruktur gibt es ­in Georgien nur an den schönsten Plätzen des Landes. Hier der Shdugra-Waterfall-Trail.

Foto: Marianne Matys

Was nur könnte es sein, das die Berggötter derartig erzürnt hat? Diese Frage stellt sich mir ernsthaft, denn soeben hat ein gewaltiger Blitz aus dem nachtschwarzen, gewitterschweren Himmel die gesamte Welt um mich herum erst erhellt und dann in Finsternis getaucht. Kompletter Stromausfall. Die Silhouette von Mestia – der Provinzhauptstadt von Georgiens wohl abgelegenster Region Oberswanetien – ist nur noch zu erahnen. Geisterhaft stehen die unzähligen Wehrtürme vor dem Schnee der Berge. Erloschen sind schlagartig die Lichter in Ladenfronten und Fenstern, das Internet weg, als hätte es nie existiert. Es ist einer der Momente auf der Reise, in denen man ganz deutlich spürt, dass hier, im Reich der mächtigsten Gipfel des Landes, immer noch die Natur den Ton angibt.

Die Natur bestimmt, wir folgen

Eben diese Natur ist es aber auch, die die vergleichsweise wenigen Gäste, die sich nach Swanetien wagen, überreichlich beschenkt. Wer hierherkommt, sucht keine Erholung, sondern die aufregendsten und noch unberührtesten Wanderwege auf dem europäischen Kontinent. Wir sind in einer Region, in der Tourismus für die meisten Einheimischen immer noch ein Fremdwort ist, Gastfreundschaft dafür aber umso fester zum Alltagsvokabular gehört. Wo kurze, heiße Sommer die saftig grünen Bergwiesen in impressionistische Gemälde aus unzähligen Wildblumen verwandeln, und wo man immer im Schatten eines der gewaltigen Granit-Giganten des Kaukasus wandert.

Da wäre zum Beispiel der Ushba, der mit seinem imposanten Doppelgipfel das Dolra-Tal sprichwörtlich überragt und als einer der am schwierigsten zu besteigenden Berge des Landes gilt. In seiner Form dem legendären Matterhorn nicht unähnlich, ist er auch ein wichtiger Teil der lokalen Mythologie. Denn sein Name bedeutet übersetzt »Der Furchtbare«, und viele Swanen glauben bis heute, er sei der Hort des Bösen. Ganz nah kommt ihm, wer den Guli-Pass überquert, der das kleine Nest Becho über eine Strecke von etwa 17 Kilometern mit dem Ort Mestia verbindet. Ein Abenteuer, das uns leider nicht vergönnt ist, denn Anfang Juni liegt hier, auf knapp 3000 Metern Höhe, immer noch derart viel Schnee, dass die Traverse schlicht ­unmöglich ist. Guide Zviad tröstet: »Nehmt es nicht so schwer, da ist heute sogar eine Gruppe professioneller Bergsteiger umgekehrt.«

Chinkali (Teigtaschen), Chatschapuri (Käsebrot) und georgische Weine werden im Gästebuch besungen. Auch wir verewigen uns mit einer Ode.

Foto: Marianne Matys

Die Alternative, eine Wanderung zum Shdugra-­Wasserfall, ist aber nicht weniger spektakulär. Zunächst geht es über Wiesen und lichten Wald am Fuß der Berge durch eine Landschaft, die auch eine Fototapete sein könnte. Auf Schritt und Tritt klickt die Kamera in dem vergeblichen Versuch, fotografisch festzuhalten, was nicht einmal Augen und Herz so richtig fassen können. Die wahrlich atemberaubende Wanderung ist technisch nicht anspruchsvoll und so steht sie anscheinend auf der Bucket-List aller Swanetien-Reisenden. Ein Paar aus Israel hat es genauso hierher verschlagen wie Wandernde aus ganz Europa und sogar Australien. Kurz unterhalb des Shdugra öffnet sich dann der Wald wieder und gibt den Blick frei über das gesamte Tal sowie das Laila-Massiv an seinem anderen Ende. Das Wasser donnert fast 120 Meter so gewaltig in die Tiefe, dass man sein eigenes Wort kaum versteht. Auch hier hat die Natur wieder ­einen Superlativ für uns parat, denn der Shdugra ist der höchste Wasserfall Georgiens.

Eine Kulisse wie aus einem Fantasy-Film

Der Sonnenschein hält jedoch leider nicht an, und nachts bricht das Gewitter über uns herein. Am Tag darauf ist der Himmel mit dichten Wolken derart verhangen, dass sie einen guten Teil der ­Berge­ verdecken. Die perfekte Kulisse allerdings für ­unsere Fahrt nach Ushguli, einen der zweifellos bemerkenswertesten Orte der Welt. Es scheint, als sei hier zwischen windschiefen Steinhäusern und Wehrtürmen, die seit 1996 zum Unesco-Welterbe gehören, irgendwann die Zeit einfach stehen geblieben. Beziehungsweise habe sich zurückgedreht, denn diese kleine Siedlung ist ein krasser Ana­chronismus zu unserer modernen schnelllebigen Welt. Jede Gasse, jeder Winkel kündet von entbehrungsreichen Wintern und generell harten Zeiten, Strom oder auch nur fließend Wasser hat hier ein Großteil der Bevölkerung nicht. Die Geschichten, die diese Mauern seit über 1000 Jahren aufsaugen, sind fast mit den Händen zu greifen.

Mit dieser Kulisse im Rücken, die jedem Fantasy-­Film zu Ehren reichen würde, machen wir uns auf den Weg zum Fuße des Schchara-Gletschers, benannt nach dem gleichnamigen höchsten Berg des Landes. Unser Guide scheint genauso überrascht wie wir, als sich uns auf der Strecke plötzlich ein ziemlich reißender Wildbach in den Weg stellt. Wieder müssen wir der Natur das Abenteuer erst abtrotzen, umdisponieren. Und wieder stehen die Einheimischen mit Rat, Tat und einem Jeep uns zur Seite. Der Weg, der zunächst über eine Art Straße in Richtung Gletscher führt, verengt sich bald zu einem Pfad durch lichten Wald, der schließlich einem Parcours über Geröllhalden weicht, die der Eisriese bei seinem Rückzug hinterlassen hat. Irgendwann stehen wir dann wirklich unter der Zunge des Millionen Jahre alten Giganten, so nahe und so alleine, dass man vor Ehrfurcht erstarrt wie der Eisriese selbst.

Und während unsere Reise sich dem Ende zuneigt, beginnt eine andere hier erst: die des mächtigen Enguri-Flusses, der, aus dem Gletscher geboren, sich durch ganz Swanetien schneidet. Seine Kraft ist so unvorstellbar gewaltig, dass er im Alleingang 46 Prozent des Stromverbrauchs des gesamten Landes deckt. Selbstverständlich sind das nur ein paar der Kostproben, die die Natur hier parat hält. Wir kommen gerne wieder für mehr.

Kleines Land, viel Natur

Kaukasus-Republik Georgien

Georgien liegt an der Schnittstelle zwischen Europa und Asien. Die ehe­malige Sowjetrepublik bietet alpine Landschaften im Kleinen und Großen Kaukasus, Strände am Schwarzen Meer und geschichtsträchtige Orte, wie das Höhlenkloster Vardzia aus dem 12. Jahrhundert. Besonders erwähnenswert ist die große Gastfreundschaft.


10. April 2024
Autor: Marianne Matys

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