Wandern auf La Réunion

Achterbahn für Vibramsohlen

Der Cirque Mafate ist ein autofreier Talkessel auf der zu Frankreich gehörenden Tropeninsel La Réunion. Seine irrwitzige Topographie macht ihn zu einem Wanderparadies erster Kajüte: auf einer Fläche von nicht einmal 100 Quadratkilometern gibt es gefällstarke 140 Kilometer Wanderwege. Blasenpflaster nicht vergessen.

Warum die Sklaven an der Küste von ihrer Fronarbeit auf den Zuckerrohrplantagen hierher flohen, wird schnell klar. Denn die Wasserleitung, entlang der wir die ersten Meter in den Cirque Mafate quasi bescheißen, gab es damals mit Sicherheit noch nicht. Und der Rest dieses wildesten aller drei Talkessel auf La Réunion hat eine Oberfläche wie ein Streuselkuchen: entweder steil rauf oder steil runter. Geradeaus ist die absolute Ausnahme, halbsteil selten.

Und da das Wegenetz damals sicher auch nur rudimentär vorhanden war, lebten die Geflohenen über Jahrzehnte unbehelligt von der Gendamerie ein hartes aber selbstbestimmtes Leben, keine 20 Kilometer Luftlinie von der Hauptstadt Saint-Denis entfernt. Der erste, der den beschwerlichen Weg in die Inselmitte antrat, war übrigens ein Sklave aus Madagaskar namens … ja, klar … Mafate. Was übersetzt soviel heißt wie »der Gefährliche«. Ob der Name dem Sklaven gerecht wurde, sei dahingestellt, auf den wild zerklüfteten Talkessel trifft er in jedem Fall zu. Übrigens: Wie die anderen Talkessel entstand der Mafate beim Einsturz der zentralen Magmakammer des Piton des Neiges vor 300.000 Jahren. Heute wohnen im Mafate nur etwa 800 Einwohner, die sich auf etwa 10 durch Fußwege verbundene kleine Siedlungen verteilen. Der Plan, den Mafate mittels einer Straße zu erschließen, wurde zum Glück schon vor vielen Jahren fallen gelassen, noch heute ist er nur zu Fuß und per Helikopter zu erreichen.

  • Trekkingstöcke schonen die Knie und sorgen für die Extraportion Balance.
  • Ein kunstvoll bemalter Wassertank markiert den Start zur Mafate-Wanderung entlang der Canalisation des Orangers
  • Der Riviere des Galets entwässert den Mafate und hat zur Regenzeit manchmal soviel Wasser wie der Rhein bei Köln.
  • Wanderguide Julie sorgt dafür, dass ich nicht vom rechten Weg abkomme.
  • Trittsicherheit ist im Mafate kein Nachteil.
  • Nächstes Mal doch besser per Helikopter? auf keinen Fall …

Warm-up entlang der Wasserleitung

Mich selbst umtreibt der Mafate nun schon seit über 30 Jahren. Es ist mein fünftes Mal auf der Insel, die beim ersten Mal 1990 noch als absoluter Geheimtipp in der Fernreise-Szene galt. Und obwohl ich sicher schon einige hundert Kilometer auf den Inselwanderwegen zurück gelegt habe, war der Mafate aus diversen Gründen nie dabei: zuviel Regen, zu wenig Zeit und – da kann ich die Gendamerie gut verstehen – zu anstrengend. Doch jetzt, Mitte Mai, stehen die Sterne günstig für mein Herzensprojekt. Das Wetter ist nach Ende der Regenzeit im Februar/März absolut stabil, die Hütten im Cirque vor dem Sommer (der hier auf der Südhalbkugel der Winter ist) noch nicht ausgebucht und ich habe mit Julie Ferard eine charmante Wanderbegleitung, die den Mafate kennt wie ihr Rucksackdeckelfach. Allein bei der Kondition halte ich es getreu der Devise: Der Appetit kommt beim Essen. Wird schon.

So schlendern wir entlang der Wasserleitung »Canalisation des Orangers«, die sich wie eine dünne Spinnwebe in die stellenweise senkrechte Felswand gegenüber des bekannten Ausgucks Cap Noir krallt. Unser erstes Ziel ist der kleine Weiler Roche Plate. Sobald wir die Wasserleitung verlassen haben, nimmt uns der Trail ordentlich in die Mangel. Auch sollte man sich im Mafate keine Illusionen machen, dass man die Hütte, die da vor einem zum Greifen nahe scheint, in Minutenschnelle erreicht. Wahrscheinlicher ist es, dass man für die 300 Meter Luftlinie noch zwei Schluchten mit je 300 Höhenmetern kreuzen muss.

Irgendwann ist es dann aber geschafft und wir erreichen unsere »Gite«. Diese Unterkünfte bieten meist einen recht rudimentären Komfort und lassen sich kaum mit unseren Alpenvereinshütten vergleichen. Allein die Ausnutzung vorhandener Quadratmeter durch maximal viele Betten haben sie gemein. Doch nicht mit mir. Um für nächtliche Ruhestörung jeglicher Art gewappnet zu sein, habe ich ein ultraleichtes Kuppelzelt dabei, welches ich nach Rücksprache mit dem Hüttenwirt in seinem Vorgarten platzieren darf.

»Den Wecker ersetzt ein potenter Hahnenschrei zu gottloser Zeit. Ich wünsche ihm, auch bald im Curry zu landen.«

Zum Abendessen, welches meist gegen 19 Uhr serviert wird, gibt es das inselübliche Chicken-Curry. Jeden Abend. Und da alle Lebensmittel teuer per Helikopter eingeflogen werden, ist der Nachschlag meist limitiert. Wer einen hohen Grundumsatz hat, bringt sich daher besser genügend Riegel oder gefriergetrocknete Fertiggerichte für die zweite Runde mit.

Die Hitze des Tages ist längst einer angenehmen Bergfrische gewichen, als ich in mein Innenzelt schlüpfe. Über mir spannt sich ein beeindruckender Sternenhimmel und ich fahre auf der Milchstraße gen Schlummerland. Den morgendlichen Wecker ersetzt ein potenter Hahnenschrei zu gottloser Zeit. Ich wünsche ihm, auch bald im Curry zu landen. Lange bevor die Sonne über den Kesselrand spickt, haben wir bereits die Beine in die Hand genommen. Nächster Halt: Marla. Luftlinie: 5 Kilometer. Laufstrecke: 11 Kilometer. Aufstieg 900 Höhenmeter. Abstieg: 440 Höhenmeter. Diese Etappe zählt zu den schönsten im gesamten Mafate. Einen großen Anteil daran hat »Trois Roches«. Hier wird der friedlich dahinglucksende Rivière des Galets von einem kaum meterbreiten Felsspalt verschluckt. Oberhalb davon lässt es sich herrlich baden und relaxen, unterhalb wunderbar gruseln – beim Versuch, einen Blick in die folgende Schlucht zu erhaschen, durch die der Galets wie ein Lindwurm wütet.
Im Anschluss geht es den Fluss weiter hinauf, der hier beständig an der Substanz des Mafate gräbt und eine ziemliche Mondlandschaft hinterlassen hat. Während der Regenzeit kann sich der Fluss, der jetzt kaum einen Kubikmeter Wasser führt, in einen reißenden Strom verwandeln, der an seiner Mündung in den Indischen Ozean eher dem Rhein bei Köln ähnelt als einem gerade mal 20 Kilometer langen Bergfluss.

Wenn der Postbote zugleich Bergläufer ist

Das mit der Post war früher, als Ivrin Pausé noch lebte, ganz anders. Er war der Briefträger von Mafate und erledigte seine Botengänge selbstverständlich zu Fuß. Von 1951 bis 1991 lief er insgesamt 253.000 Kilometer durch den Mafate, was ihn auf anderer Route sechsmal um die Erde geführt hätte. Auf seinem Rücken trug er stets 15 bis 18 Kilo Post. Heute erinnert eine Basaltstatue im Mafate-Ort Grand Place an den unglaublichen Ivrin und seine noch unglaublichere Profession.

Dass derartige Lieferungen heute zu 99% durch den Helikopter ersetzt wurden, ist nachvollziehbar, doch schmälert das besonders in den Morgenstunden stets präsente Geknatter leider etwas den Naturgenuss.

  • Hallo Halo! Oder! Wandern wie Gott in La Réunion.
  • Wie immer in den Tropen ist es nach Sonnenuntergang ganz schnell finstere Nacht, eine Stirnlampe darf daher im Rucksack nie fehlen.
  • Room with a view!
  • Leider ist das Wetter auf Réunion etwas unstet, so dass das Außenzelt stets greifbar sein sollte.
  • Noch so ein Talkessel, aber mit Straßenanschluss: Entre-Deux
  • Das Spiel aus Thermik und Wolken im Mafate wirkt oft wie im Zeitraffer.
  • Feierabend im Indischen Ozean.

Am Abend gibt es das übliche Hühnercurry und zum Nachtisch Rumpunsch bis zum Abwinken. Entsprechend lange und lustig verhocken wir mit den anderen Gästen. Die meisten sind Festlandfranzosen, die auf der Insel Freunde und Bekannte besuchen oder einem befristeten Job nachgehen. Eine Mehrtageswanderung durch den Mafate, so betonen sie unisono, sei für fitte Inselbesucher stets Pflichtprogramm und viele sind zum wiederholten Mal hier unterwegs. Ihnen mangelt es hier im französischen Übersee-Departement nach einem zehnstündigen »Inlandsflug« scheinbar an nichts.

Überhaupt scheint La Réunion seinem Namen alle Ehre zu machen. Die Insel beherbergt eine bunte Mischung aus verschiedenen ethnischen Gruppen, darunter Kreolen, Malbars, Chinesen und Europäer. Die Kreolen, die aus afrikanischen, madagassischen und indischen Vorfahren hervorgegangen sind, stellen die größte Bevölkerungsgruppe dar. Danach kommen die Malbars, indische Einwanderer. Die Europäer, meist Festlandsfranzosen, die einen staatlichen Job wie Lehrer oder Beamter ausüben, sind die respektierte Minderheit. Diese vielfältige Bevölkerungsstruktur macht La Réunion zu einem faszinierenden Schmelztiegel der Kulturen.

Am dritten Tag geht es von Marla nach La Nouvelle. Da die Strecke nicht ganz so lang und anstrengend wie an den Vortagen ist, bauen wir den ein oder anderen Schlenker ein. Zur »Plaine aux Sables« etwa, die wohl größte ebene Fläche im ganzen Mafate. Hier würden sich sogar Traktor und Pflug lohnen.

La Nouvelle ist mit rund 150 Einwohnern die größte Siedlung im Kessel, Dorfdisco inklusive. Und da heute Saturday Night Fever ausgebrochen ist, gibt es davon reichlich. Obwohl mein Zelt sicher 200 Meter von den Boxen entfernt steht, bin ich froh um meine Ohrenstöpsel. Ohne wäre wohl nur die Flucht nach vorne möglich gewesen: hingehen und mittanzen.

»Nach der Tour ist vor der Tour. Vom Piton Maido aus kann man sich die Route durch den Mafate nochmal anschauen – und neue Pläne schmieden.«

Der letzte Tag im Mafate ist nur ein halber. Es geht hoch zum Col des Boefs – der Übergang zum Cirque Salazie – versehen mit Straßenanschluss. Er ist daher der populärste Weg in den Mafate und mein Tipp für alle, die nur maximal zwei Tage Zeit haben. Zwischen La Nouvelle und dem Pass liegt die Plaine des Tamarins, die für mich schönste Landschaft auf La Réunion. Auf dieser Hochebene wachsen zahlreiche knorrige Tamarindenbäume, die sich dem Wind entgegenstemmen. Wenn ab der Mittagszeit – wie so oft auf La Réunion – Nebel aufzieht, herrscht in dem Wald eine besonders mystische Stimmung und man kann ihn sich gut als Kulisse für einen Fantasyfilm vorstellen.

Dass der Helikopter nicht immer das Maß aller Dinge für den Warentransport in den Mafate ist, demonstriert uns eine flinke Trailrunnerin am letzten Tag der Tour. Sie balanciert zwei große Geburtstagstorten auf ihren Händen über den Wurzeltrail, als sie uns beim Aufstieg zum Col des Boefs entgegen kommt. Trotz vollster Konzentration reicht es für ein Lächeln und einen Gruß: »Bonne route«. Oben angekommen, trennen sich auch die Wege von Julie und mir. Sie fährt wieder an die Westküste, ich bleibe noch im Nachbartalkessel Salazie, von wo aus ich den höchsten Berg der Insel, den Piton des Neiges besteigen will. Aber das ist eine andere Geschichte …


TEXT & FOTOS: Michael Neumann