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Berge Special

Wildes Alpinklettern
mit Meerblick

Die Lofoten sehen aus, als hätte man die Alpen einfach zur Hälfte im Meer versenkt. Steile Gipfel ragen direkt aus dem blauen Atlantik – ein Paradies für Outdoor-Sportler. Auch Kletterer lassen sich vom perfekten Granit bis hinauf zum Polarkreis locken. Einziger Nachteil: Das Wetter auf der norwegischen Inselgruppe ist oft unbeständig.

Linus Meyer

… arbeitet als Marketing Manager für Tierra und ist seit 20 Jahren als Abenteuerfotograf und Autor tätig.

Es bröselt unangenehm unter meiner linken Sohle, als ich sie vorsichtig auf einen kleinen Vorsprung setze. Ich spüre, wie sie rutscht, und verliere den Halt. Zum Glück stehe ich mit dem anderen Fuß stabil und habe meine Hände in den breiten Riss geklemmt, so dass ich es schaffe, nicht zu fallen. Unter der Sohle hat etwas Kies geklebt, den ich nicht ausreichend entfernt hatte. Ich weiß, dass so ein einfacher Fehler leicht zu einem Sturz führen kann.

»Gut geklettert«, sagt Elias und grinst mich von einem Ohr zum anderen an. Ich kann nicht wirklich zustimmen. Ich fühle mich schwer und ein wenig nervös. Ich bin es nicht gewohnt, lange Risse zu klettern, und der Rucksack mit der Kameraausrüstung und den Drohnen ist schwer. Werde ich es wirklich schaffen, die 400 Meter lange Route zu klettern, wenn es schon nach 50 Metern nicht gut läuft?

Der Westpfeiler (6. Grad) an der majestätischen Granitwand des Presten ist die berühmteste Kletterroute auf den Lofoten. Ich bin mit einheimischen Kletterern unterwegs: Andreas und Karin, sie ist Kletterlehrerin und Mitglied des Tierra-Testteams, außerdem ihr finnischer Freund Elias. Wir wollen Fotos für Tierra produzieren.

Unten schwimmen die Wale


Für mich ist es genau 25 Jahre her, dass ich zum ersten Mal auf den Lofoten zum Klettern war. Das Hauptziel war damals die Besteigung des Vestpillaren. Einen Ort ein zweites Mal zu besuchen oder eine Route ein zweites Mal zu klettern, ist immer ein gewisses Wagnis. Einerseits kennt man den Ort und man fühlt sich ein wenig sicherer, andererseits sind das Abenteuer und die Entdeckerfreude, die man beim ersten Besuch erlebt hat, weitgehend verschwunden. Damals war ich Teenager und träumte davon, Abenteuerfotograf oder Bergführer zu werden. Von Narvik trampte ich mit Kletterausrüstung und billig in Schweden gekauften Lebensmitteln auf die Inselgruppe – jetzt komme ich mit einem Mietwagen und arbeite in meinem Traumjob. Aber es hat sich nicht viel geändert. Mich faszinieren immer noch das einfache Leben und die steilen Granitwände. Da die anderen alle in ihren Wohnmobilen leben, wird der Kofferraum des Mietwagens für die nächste Woche mein Zuhause sein.

Mit jedem Meter und jeder Seillänge, die ich klettere, kommt die Technik wieder zurück und die Nervosität verschwindet. »Siehst du die Wale?«, ruft Karin und deutet auf das unglaublich azurblaue Wasser hinunter. Wir sind zweihundert Meter hoch in der Wand und die kleinen Wale sehen aus dieser Höhe eher wie Sardinen aus.

Es ist ein ganz besonderes Gefühl der Ruhe, das sich einstellt, wenn man hoch oben in einer Bergwand angekommen ist. Eine vertikale Granitwelt breitet sich um dich herum aus. Man weiß, dass man zu hoch ist, um ohne große Mühen und Risiken umzukehren, es geht nur nach oben, zum Gipfel hin. Vielleicht ist das Gefühl deshalb so stark. Es ist auch eine etwas beängstigende Erfahrung; man fühlt sich sehr klein und den Naturgewalten ausgeliefert. Als ich die Route vor 25 Jahren bestieg, begann der Aufstieg wie heute bei Sonnenschein, endete aber bei Nebel, Regen und starkem Wind. Wir hatten es damals gerade noch auf den Gipfel geschafft. Heute scheinen wir mit dem Wetter auf der glücklichen Seite zu sein. Das Wetter hier auf den Lofoten kann sich wirklich unglaublich schnell ändern.

»Das letzte Mal konnte ich wegen des Nebels die Hand vor Augen nicht sehen.«

Auf den Lofoten gibt es Klettermöglichkeiten für jeden. Von leichten und kurzen Routen für Anfänger bis hin zu alpinen Graten und langen, schweren Klettereien ist alles dabei. Immer mit schönen Linien und erstaunlicher Steinqualität. Die meisten Kletterrouten befinden sich zwischen Henningsvær und Svolvær. Wer nicht so hoch klettern möchten, der findet in der Gegend viele Boulder-Möglichkeiten. Das bekannteste Problem ist die Kingfisher-Linie. Eine sehr fotogene Kante an einem schiefen Felsblock mit dem Meer im Hintergrund.

Wir klettern Seillänge um Seillänge. Die »Slanting Edge« fordert fein ausbalancierte Bewegungen mit viel Luft unter den Füßen. Das letzte Stück zum Gipfel führt in eine grasige Rinne, die ohne Seilsicherung geklettert wird. Vielleicht das Gruseligste an der ganzen Route. Wir kommen oben an. Die Aussicht ist unbeschreiblich schön. Als ich das letzte Mal hier war, konnte ich wegen des Nebels die Hand vor Augen nicht sehen, es war wie ein Blick durch ein Glas Milch.

Ich hatte völlig aus meinem Gedächtnis gestrichen, wie man wieder herunterkommt. Es wartet eine leichte, aber sehr lange und ausgesetzte Kletterei und ein Abstieg, bei dem es in den Oberschenkeln brennt. Zurück im Auto schlafe ich im Kofferraum ein, wache vom Klappern der Essensvorbereitungen auf und feiere den erfolgreichen Aufstieg mit einem Bier, das wir im kalten Atlantikwasser gekühlt haben.

»Mich faszinieren immer noch das einfache Leben und die steilen Granitwände.«

Am nächsten Morgen wache ich auf, weil der Regen aufs Autodach prasselt. Mit ein paar gymnastischen Verrenkungen schaffe ich es, die Regenbekleidung im Kofferraum anzulegen. Schwere dunkle Wolken hängen tief am Himmel. Unsere Pläne fürs Felsklettern müssen wir verwerfen. Bei diesem Wetter ist es besser, wenn wir einen alpinen Grat auf den Lyngværfjellet klettern. Wir navigieren durch die dichte Wolkendecke nach oben. Es regnet in Strömen, und an den steileren Stellen der Route bilden sich jetzt kleine Wasserfälle.

Der Aufstieg ist nicht schwierig, aber er ist luftig und ausgesetzt. In den kleinen Lücken in der Wolkendecke können wir das blaue Atlantikwasser weit unter unseren Füßen sehen. Die schlechte Sicht gibt unserem Aufstieg eine besondere Stimmung. »Stand« höre ich Karin aus dem Nebel schreien.

Die größte Herausforderung ist heute nicht der Grat, sondern der Abstieg über den mittlerweile schlammigen und schmalen Graspfad, der sich vom Gipfel des Berges hinunterschlängelt. Man muss wirklich aufpassen, dass man die Füße an die richtige Stelle setzt, damit man nicht im Schlamm ausrutscht und abstürzt. Unten bei den Autos reißt es auf und die Sonne kommt heraus, obwohl der Wetterbericht zunehmende Regenfälle vorhersagt.

Rückweg vom Rock and Roll ridge

»Die Lofoten sind es wert, auch mehrmals zurückzukommen.«

Um unsere Kletterfähigkeiten herauszufordern, zeigt uns Andreas das schöne Boulderproblem Kingfisher (7a). Im August geht auch hier auf den Lofoten die Sonne schon wieder für ein paar Stunden unter, sodass wir die Boulder-Session im Schein unserer Stirnlampen absolvieren müssen. Runde Sloper, technisch schwierige und ausbalancierte Bewegungen lassen mich erkennen, dass ich nicht stark genug bin. Stattdessen schaue ich zu, wie Elias im Licht unserer Stirnlampen anmutig an der Kante emportanzt, um sich schließlich in die Dunkelheit zu schwingen. Nur ein Siegesgebrüll ist von der Spitze des Steins zu hören. Abgerundet wird der Abend mit gegrilltem Fisch, den ein deutscher Kletterfreund vom Ufer aus geangelt hat.

Alles aufzuzählen, was man in einer Woche hier alles klettern kann, wäre unglaublich langweilig zu lesen. Auf den Lofoten geht es vor allem darum, sich den Wetterbedingungen anzupassen, die gegebenen Wetterlücken auszunutzen und immer auf Wetterumschwünge im Guten wie im Schlechten vorbereitet zu sein. Und ja, die Lofoten sind es wert, auch mehrmals zurückzukommen. Selbst wenn man schon auf der ganzen Welt geklettert ist, diese Inseln bieten eine einzigartige Mischung aus rauem Abenteuer und sanfter Schönheit.

  • Anreise:

    Mit dem Nachtzug von Stockholm nach Narvik, dann weiter mit Bus oder Schiff. Flüge nach Svolvær oder Narvik. Ein Auto ist von Vorteil, um zu den Felsen zu gelangen.

  • Unterkunft:

    Es gibt einen einfachen Campingplatz in Kallestranda, außerdem einige Stellplätze für Wohnwagen und Wohnmobile. Hotels und Airbnb sind auch vorhanden, aber nicht sehr viele.

  • Führer:

    Die Nordnorwegische Kletterschule und ihr Klettercafé in Henningsvær sind gute Anlaufstellen. Karin Eknor ist am einfachsten auf Instagram zu finden unter @karsinfjelliv

  • Zum Essen:

    Setz dich einfach ans Ufer und wirf deine Angel aus, der frische Fisch aus dem Atlantik ist unschlagbar. Ansonsten haben Klatrekaféen und Trevarefabrikken in Henningvær gutes Essen.


FOTOS, VIDEO & TEXT: Linus Meyer