Sommerfrische im Influencer-Hotspot Madeira

Mar e Montanhas

August 2023. Familienurlaub mit drei fußlahmen Halbstarken, denen wir verschwiegen haben, dass die Insel im Atlantik in erster Linie ein Wanderparadies mit vielen Höhenmetern ist. War trotzdem super!

Madeira? Blumeninsel, Wein und Rentner! So die gängigen Klischees über die zu Portugal gehörende Atlantikinsel. Als wir die geplante Destination für den diesjährigen Sommerurlaub unseren Kindern präsentieren, sind sie sofort begeistert, es fallen jedoch ganz andere Schlüsselbegriffe: Unge, RevedTV und Fritz Meinecke … Bitte? Die Lösung findet sich auf Youtube und Twitch, welche bei der Jugend in Sachen Infoquellen längst das Öffentlich-Rechtliche Fernsehen abgelöst haben. Unge, Reved und Co. sind Streamer. Streamer? Ein Streamer ist eine Person, die Live-Videoinhalte über das Internet überträgt. Streamer können verschiedene Arten von Inhalten »verströmen«, wie zum Beispiel Videospiele, Musik, Kochen, Kunst oder einfach nur ihre täglichen Aktivitäten. Sie nutzen Plattformen wie Twitch und YouTube, um ihre Streams einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Streamer interagieren oft in Echtzeit mit ihrem Publikum, indem sie deren Kommentare und Fragen während des Streams beantworten. Viele Streamer haben eine treue Fangemeinde aufgebaut und können durch Werbung, Abonnements oder Spenden Einnahmen generieren. Aha!

Die Halbstarken

Kalle, Sam und Matti lieben Kanuslalom, Skifahren, Snowboarden, Downhill-MTB – und hassen Wandern. Ihrer Meinung nach wurden sie dazu schon zu oft genötigt. Nach zähen Verhandlungen, vielen alternativen Angeboten und unter Androhung von Taschengeldkürzungen konnte ihr Vater immerhin 1,5 gemeinsame Wandertage auf Madeira rausschlagen. 

Aber was hat das alles jetzt bitte mit Madeira zu tun? Nun, Schuld daran ist allen voran Unge, bürgerlich Simon Wiefels. Der ist nämlich vor einigen Jahren nach Madeira ausgewandert und hat dann nacheinander die deutsche Youtube-Hautevolee dorthin eingeladen. Und natürlich haben dann alle von dort »gestreamt«. Sogar TV-Moderator Kai Pflaume hat ihn für sein Youtube-Format »Ehrenpflaume« auf seinem Anwesen bei Funchal besucht. Somit wissen meine Kinder definitiv, wo Madeira in etwa liegt und dass es für junge Leute durchaus attraktiv sein muss. Das Madeira auch ein Wanderparadies ist, müssen wir ja nicht extra erwähnen.
Ich selbst habe zuvor ebenfalls einige Stunden auf Youtube verbracht, denn das Angebot an Travel-V-Logs über die Blumeninsel ist enorm, so dass man sich schon zuvor ein sehr gutes Bild darüber machen kann, was man – je nach Neigung – keinesfalls verpassen sollte.

»Bitte mit Nebel – der Lorbeerwald von Fanal könnte auch als Kulisse in einem Horrorfilm dienen.«

»Bitte mit Nebel – der Lorbeerwald von Fanal könnte auch als Kulisse in einem Horrorfilm dienen.«

Brumm-Brumm statt Natur pur

Was wir jedoch nicht auf dem Schirm haben – sorry, andere Blase – ist die Madeira-Rallye. Die findet nämlich am Wochenende unserer Ankunft statt und sorgt dafür, dass wir manche geplante Wanderung an diesen Tagen nicht erreichen. Bereits am ersten Abend in Funchal, der Inselhauptstadt, findet ein Showfahren auf der Uferpromenade statt, so dass das erste Abendessen am Meer vom Lärm röhrender Motoren und driftender Reifen geprägt ist.
Doch nach dieser kleinen Verzögerung erschließen wir uns nach und nach die Faszination Madeira. Ausgangspunkt ist ein wunderbares kleines Ferienhaus bei Canico. Meerblick, eine uneinsehbare Terrasse, komplett ausgestattet für Selbstkocher, ein exzellentes Fischlokal in Wurfweite und ein guter Bäcker keine hundert Meter entfernt. Das beste ist aber der zehnminütige Fußweg zur öffentlichen Badestelle Reis Magos. Wer gern seine Füße in warmen Sand gräbt, während er dem Spiel der Wellen zuschaut, ist auf Madeira jedoch fehl am Platz. Vielerorts findet man dagegen eine steile Felsküste, der man mit Plattformen, Treppen und Leitern einen Zugang zum Wasser abgerungen hat. Beliebt sind auch Meerwasserpools, deren Barrieren der Dünung und gefährlichen Strömung ihren Schrecken nehmen. Unsere Jungs freuen sich jedenfalls, können sie doch aus allen möglichen Höhen ins Wasser springen und ihre Backflips und Bauchklatscher (heißt heute übrigens »Cat«) üben. Wer es geruhsamer mag, sollte das Schnorchelset nicht vergessen. Vor Canico liegt der Unterwasser-Nationalpark Garajau. Hier gibt es je nach Schnorchel- oder Tauchskills Zackenbarsche, Bernsteinmakrelen, Barrakudas, Kugelfische, Trompetenfische und Drückerfische zu sehen – und mit etwas Glück auch Mantas.

  • Blick auf das Meeres-Schwimmbad von Porto Moniz
    Das Meeres-Schwimmbad von Porto Moniz trotzt dem wilden Atlantik ein paar Quadratmeter ab.
  • schnelles Auto beim Autorennen auf Madeira
    Einmal im Jahr dröhnen auf Madeira die Motoren.
  • Ehrenpflaume: Ein Tag mit Simon Unge
    Sehenswert: Kai Pflaumes Besuch bei Unge auf Youtube.
  • Junge riecht an Agapantus Blüte auf Madeira
    Blumeninsel? Pah!

Überhaupt erscheint uns die Region um Canico perfekt als Basislager für einen aktiven Familienurlaub. Zehn Kilometer vom Flughafen entfernt und zehn Kilometer bis nach Funchal. Von hier ist man mit dem Mietwagen innerhalb einer guten Stunde nahezu überall auf der nur 50 x 22 Kilomer großen Insel. Und den Pico do Arieiro, 1818 Meter hoch, erreicht man in gut einer halben Stunde. Dort oben sieht man gegen 7.30 Uhr je nach Bewölkung einen der schönsten Sonnenaufgänge der Welt. Idealerweise schieben sich die Wolken aus Richtung der aufgehenden Sonne bis knapp unter den Gipfel des Picos – also nicht nervös werden, wenn es bei der Hochfahrt die ganze Zeit neblig ist. Und sobald dieses Wolkenmeer, aus dem nur die höchsten Picos ragen, von der Sonne beschienen wird, sorgt die Thermik im besten Fall dafür, dass die ganze Szenerie in Bewegung gerät und sich das Lichtschauspiel im Sekundentakt verändert. Oft wirkt das, als würde der Teufel sein Süppchen in den Talkesseln kochen.
Der Pico do Arieiro ist aber nicht nur spektakulärer Aussichtspunkt sondern auch der Start zu einer noch spektakuläreren Wanderung auf den höchsten Berg der Insel, den 1862 Meter hohen Pico Ruivo. Der Wanderweg dorthin ist rund sechs Kilometer lang (und sechs zurück) und hat, obwohl sich die Gipfelhöhen keine 50 Meter unterscheiden, satte 1000 Höhenmeter. Wobei Wanderweg doch etwas untertrieben ist angesichts dessen, was die Erbauer da in den Fels gemeißelt haben. Es geht über kaum zwei Meter breite Grate, über unzählige Treppen und Leitern, dem senkrechten Fels abgerungene Traversen und durch stockdunkle Tunnel. Diese tauchen folgerichtig immer dort auf, wo das erfahrene Bergwanderer-Auge vergeblich eine Fortführung des Weges im Tageslicht sucht. Von dem anfangs penibel mit Steinplatten befestigten Weg sollte man sich dabei nicht täuschen lassen, ein Spaziergang wird das nicht. Und über allem steht die Frage: Wer zum Teufel hat bitte diesen kühnen Weg in den Fels gehauen?

»Die Himmelsleiter ist der spektakulärste Abschnitt auf Europas schönstem Wanderweg über das Dach Madeiras.«

Eine Wanderung zwischen Himmel und Hölle

Wir starten getreu unserer Devise »Morgens Berge, nachmittags Meer« bereits um 7 Uhr unsere Wanderung. Der Mond steht noch hoch und voll am Himmel, so dass wir auch ohne Stirnlampe gut vorankommen. Nach 15 Minuten Abstieg passieren wir den beliebten Ausguck »Miradouro do Ninho da Manta« und die sogenannte Himmelstreppe, eine kurze Passage, an der es beidseitig hunderte Meter in die Tiefe geht. Da wir den Sonnenaufgang einfach Sonnenaufgang sein lassen, haben wir den mit Abstand populärsten Wanderweg Madeiras ganz für uns allein. Das hat den großen Vorteil, dass man jederzeit sein Tempo laufen kann und bei Fotostopps nicht 20 sondern nur 2 Personen auf den Bildern hat.
Vier Tunnel bis hundert Meter Länge gilt es mittendrin zu durchwandern, bevor die seit dem Start abgebauten 500 Höhenmeter wieder reingelaufen werden wollen. Aktuell ist ein fünfter Tunnel aufgrund eines Felsturzes gesperrt, so dass noch ein paar Extrahöhenmeter in Form beinahe senkrechter Metalltreppen hinzukommen. Mit ihnen gelangt man nach rund zwei Stunden Gehzeit zurück auf die Ostseite des Gebirges, wo die Sonne längst der Kühle des Morgens den Gar ausgemacht hat. Jetzt noch ein paar Serpentinen durch den Geisterwald aus verbrannten und weiß verblichenen Eucalyptusbäumen und man ist an der kleinen Hütte unterhalb des Gipfels. Hier kann man vor oder nach der Gipfelbesteigung (15 Minuten) schön picknicken und gegebenfalls fehlenden Proviant aufstocken.
Während unsere pubertierenden Jungs auf dem Hinweg noch hier und da zu Tiraden ansetzten, dass Wandern ja so gar nicht ihres sei und daran auch die vermeintlich schönste Tageswanderung Europas wenig ändern könne, sind sie plötzlich hochmotiviert für den Rückweg. Denn wer früh startet, so ihre Rechnung, ist auch früh zurück – und kann dann noch stundenlang im Atlantik baden. Sie schaffen es am Ende trotz ordentlich »Gegenverkehr« auf dem engen Trail in eineinhalb Stunden zurück zum Mietwagen, haben aber nicht ganz bedacht, dass nur die Eltern diesen zum Meer fahren können.
In den Folgetagen haken wir mit Begeisterung weitere Madeira-Highlights ab: die Wanderung über den »Dragon Tail« ganz im Osten der Insel, das Meeresschwimmbad in Porto Moniz, den Nebelwald von Fanal, die kurze Wanderung zum Aussichtspunkt Balcoes und eine längere entlang einer »Levada«. Diese Wanderungen entlang von Bewässerungskanälen sind typisch für Madeira und punkten mit dem Vorteil, dass es auf ihnen nur minimal bergab oder bergauf geht.

  • Junge steht im Wald umgeben von Farn
    Ein Männlein steht im Farn.
  • Junge springt in den Atlantik
    Na bitte, geht doch: fünf Neumanns auf dem Dach Madeiras.
  • Zwei Kinder laufen über Wanderweg auf Madeira
    Auf dem PR 1 vergessen auch Fußkranke ihr Leiden.
  • Junge sitzt an Aussichtspunkt des Dragon-Tails auf Madeira
    Fertig! Die Wanderung auf dem Dragon-Tail ganz im Osten Madeiras.
  • Junge springt in den Atlantik
    Morgens, mittags, abends – ein Sprung in den Atlantik ist immer drin …

Bis die Scheibenbremse glüht

Zum Finale unserer Zeit auf Madeira haben wir zwei Tage bei »Freeride Madeira« gebucht. Diese bieten Mountainbiketouren auf der gesamten Insel an und haben zu diesem Zwecke in den letzten Jahren sagenhafte 200 Kilometer Downhill-Trails gebaut. Rund 20 Prozent des Umsatzes wird jedes Jahr in Bau des Wegenetzes investiert, ein Shaper kümmert sich hauptberuflich um deren Erhalt. Der große Vorteil dieses Projektes – neben dem Fahrspaß natürlich – ist die Tatsache, dass diese Trails nicht das vorhandene Wanderwegenetz tangieren und so kein Konfliktpotenzial zwischen Profilsohlen und Profilreifen entsteht. Da das Gefälle auf Madeira stellenweise enorm ist, geht es per Bus-Shuttle ganz nach oben. Ein Trail startet sogar am Pico do Arieiro auf 1800 Meter Höhe und so erleben wir alle Vegetationsformen Madeiras im Expresstempo. Vom kargen, wüstenähnlichen Hochplateau geht es in weiten Kurven Richtung Funchal, später folgen lichte Lorbeer- und Eukalyptuswäldchen bevor wir entlang einer blumenbestandenen Levada Richtung Zivilisation rollen und in den steilen Straßen der Hauptstadt Richtung Hafen die Scheibenbremsen nochmal richtig zum Glühen bringen – immer im Blick: der durch den steten Wind mit weißen Schaumkronen gespickte Atlantik. Ganz nach Gusto haben Chef John Fernandez und seine Guides für nahezu jede Könnensstufe auf dem Bike die passenden Touren parat. Wer jedoch die absolute Vielfalt des Trailnetzes nutzen will, sollte schon etwas fester im Sattel sitzen.

  • Mountainbike-Trail durch die Landschaft auf Madeira
    Wie eine Achterbahn schlängeln sich manche MTB-Trails durch den Ginster.
  • Portrait von John Fernandez
    John Fernandez ist einer der klugen Köpfe hinter Freeride Madeira.
  • Familie fährt Mountainbike auf Madeira
    Start auf 1800 Meter, Ziel: das Meer am Horizont.
  • Junge fährt auf Hinterrad über Trail auf Madeira
    Levada-Wanderung auf dem Hinterrad.

Und Unge? Den haben wir nicht getroffen. Wir wissen jetzt aber, was ihm und den anderen Youtubern so gut an Madeira gefällt: maximal viel Landschaft auf kleiner Fläche, rund ums Jahr angenehme Temperaturen, mit Funchal eine kleine aber feine Metropole, hervorragendes Essen von der Banane bis zum Degenfisch (oder beides zusammen, Nationalgericht), ein umfangreiches Sportangebot und der Atlantik stets in Reichweite. Ob wir auch auswandern würden? Nein, dazu ist Deutschland mit seinen vier verschiedenen Jahreszeiten einfach zu schön.


TEXT UND FOTOS: Michael Neumann