Family Special

Duo Infernale

Ihr seid auf der Suche nach einem kindgerechten Paddelabenteuer der Extraklasse? Wie in Kanada, aber mitten in Europa gelegen? Mit Wildnis, Lagerfeuer und einer Prise Wildwasser? Willkommen auf dem Tagliamento. Und im Anschluss vielleicht ein Stadtbummel durch Venedig?
Im Kanu natürlich! 

Dieses Kanu-Duett verspricht Abenteuer pur: erst tagelanges Weitwandern auf dem Tagliamento, dann ein Stadtbummel der ganz besonderen Art durch das wunderschöne Venedig. Etwas Know-how im Umgang mit Strömung, Seilfähre und Stechpaddel vorausgesetzt, sind beide Touren wie dafür gemacht, um den Nachwuchs von den Vorteilen des Paddelns als Familiensport zu begeistern – sei es durch das Robinson-Crusoe-Feeling auf den einsamen Flussinseln im Tagliamento oder das «Herr der Diebe»-Feeling in Venedig, wo man dank Kanu das Weltkulturerbe aus einer völlig neuen Perspektive erlebt. Und das geht so …

Ein Traum von einem Fluss

Das Ideal eines jeden Paddlers ist ein unverbauter Wanderfluss mit sportlichen Einlagen, der vom Hochgebirge bis ins Meer durchgehend befahrbar ist. So was sucht man normalerweise in Alaska oder Kamtschatka – aber sicher nicht im industrialisierten Italien. Und doch: In einem Tal im äußersten Nordosten hat eine Flussart überlebt, die im übrigen Alpenraum als ausgestorben gilt. Dem Tagliamento blieb bis dato das Schicksal eines Rheins – um nur ein Beispiel zu nennen – erspart, der vom Zusammenfluss von Vorder- und Hinterrhein bis zum Bodensee großteils ins enge Betonkorsett gezwängt wurde. Aber wie soll man auch einen Fluss verbauen, der in einem bis zu vier Kilometer breiten Kiesbett ständig seinen Lauf ändert und dabei unvorstellbare Massen an Geröll transportiert?
Schon Faltbootpionier Herbert Rittlinger erkannte im Jahr 1962, dass der Tagliamento »ein Paradies für ungestörtes Freiluftleben« ist und »auf 130 Flusskilometern bei ausreichendem Wasserstand eine hindernisfreie Fahrt bis zur Adria« bietet. Heute nennt man so was ein »Source to Sea«-Erlebnis. Falls überhaupt, ist das im Alpenraum sonst nur unter Inkaufnahme unzähliger anstrengender Umtragungen und kanalisierter Flussabschnitte möglich. Nicht so am Tagliamento: Bis auf zwei Wehrstufen fließt dieser Fluss frei vom Gebirge bis ins Meer.

Auf großer Kaperfahrt in Richtung Mittelmeer – ganz ohne Bärte.

Der gesamte Tagliamento ist ein perfekter Abenteuerspielplatz für unsere Nachwuchspaddler.

»Unsere Kinder sind von Anfang an absolute Tagliamento-Fans. Dieser Fluss ist so vollkommen anders als alles, was sie kennen.«

Doch zum Weitwandern mit dem Kanu gehört ja so viel mehr als die bloße Paddelei, schließlich verbringt man selten mehr als fünf, sechs Stunden im Boot. Der Rest besteht aus Kanucamping, und das lässt sich am Tagliamento perfekt zelebrieren. Wildzelten und Feuermachen sind zwar auch in Italien offiziell verboten, man kann es jedoch als geduldet betrachten, da es in der einsamen Geröllwildnis des Tagliamento-Tals sowieso niemand registriert. Und irgendwo muss man ja übernachten, denn die Strecke ist – Gott sei Dank – an einem Tag nicht zu schaffen, sondern reicht für drei, vier Tage »ungestörtes Freiluftleben«! Unsere Kinder jedenfalls sind von Anfang an absolute Tagliamento-­Fans. Dieser Fluss ist so vollkommen anders als alles, was sie bisher kennengelernt haben. Wanderpaddeln in Deutschland ist im Vergleich fast immer ein Kompromiss. Auf kurze Fließstrecken folgen meist lange Stau­strecken, auf denen man ordentlich am Stock ziehen muss, um vorwärtszukommen. Und dann folgt über kurz oder lang immer ein Staudamm, den man mühsam umtragen muss.


Ganz anders der Tagliamento. Je nach Wasserstand und aktueller Geschiebelage – der Tagliamento wird von jedem Hochwasser auf links gekrempelt, kein Stein bleibt auf dem anderen – ist die Strömung stellenweise derart flott, dass man manchmal schon anfängt, rückwärts zu paddeln, um Tempo rauszunehmen. Wohl dem, der auf dem Tagliamento nicht zum ersten Mal im Boot sitzt. Mit etwas Routine aber wird die Paddelei zu einer mühelosen Spritztour und ehe man sich versieht, hat man 20 Kilometer auf dem Tacho.

So sehen Flüsse aus, die der Mensch nicht in ein künstliches Bett gezwungen hat.

Nur zwei Wehre bremsen die freie Fahrt für freie Paddler.

Die Kunst der Lagersuche

Schon am frühen Nachmittag kann man sich daher nach einem schönen Lager umsehen. Dieses sollte folgende Kriterien erfüllen: leicht erhöhte Lage für eine schöne Aussicht, aber nicht zu weit vom Fluss entfernt, damit man seine Ausrüstung nicht weit schleppen muss. Genug Treibholz für ein ordentliches Lagerfeuer. Feiner Sand zum Spielen für die Kinder, grober Sand für unters Zelt. Kein Haus oder Privatgrund in der Nähe, damit sich niemand gestört fühlt. Und dazu eine Badestelle ohne große Strömung, so dass die Kinder gefahrlos planschen können. Am zweiten Tag, wenn links und rechts die Berge des Friaul langsam weichen, wird das Kiesbett zu einer Geröllwüste, die bis zum Horizont zu reichen scheint. Der Fluss fächert sich oft in mehrere Arme auf. Hier wählt man grundsätzlich den wasserreichsten und als Gruppe auf jeden Fall denselben! An solchen Teilungen bestehen nämlich gute Chancen, sich längerfristig aus den Augen zu verlieren, denn die Flussarme teilen sich gern mehrmals auf, laufen weit voneinander entfernt und erst nach vielen Kilometern wieder zusammen. Das verästelte Flußsystem des Tagliamento ist wie geschaffen für eine klassische Greenhorn-Nummer: Zwei versprengte Grüppchen warten an verschiedenen Stellen aufeinander – im Glauben, die jeweils andere sei halt langsamer, müsse aber jeden Moment auftauchen. In Wirklichkeit wartet die eine Partie an einem anderen Zusammenfluss flussab – man ist also gut beraten, ein Handy dabeizuhaben.

»Links und rechts des Flusses bietet der Tagliamento viel Platz für tolle Biwaks und ungestörtes Freiluftleben.«

Nach vier Tagen und drei Nächten beenden wir unsere Tour an der Ponte Tagliamento der SS13. Aufgrund des schwindenden Wasserstands sind wir die Etappe von Dignano bis hierher mit leeren Booten gefahren, während einer aus der Gruppe das Gepäck im Auto transportiert hat. Mehr als zehn Zentimeter Tiefgang hätte der verästelte Tagliamento nicht zugelassen. Aber warum führt der Tagliamento hier unten so wenig Wasser, obwohl er am Start so gut eingeschenkt war? Des Rätsels Lösung wird offenbar, als wir am Ausstieg eine andere Paddlergruppe treffen. Die Kollegen kennen sich aus und wissen, dass die Grundwasserpumpen schuld sind: Schmeißen die ansäßigen Bauern diese Pumpen an, um ihre Felder zu bewässern, sinke der Wasserstand des Flusses mitunter auf null – und das binnen weniger Minuten. Man tut also gut daran, den Tagliamento zu Jahreszeiten zu befahren, in denen die Landwirtschaft von Mutter Natur genug Wasser bekommt.

Das nächste Hochwasser wird den Flusslauf neu gestalten und dabei auch unsere Spuren verwischen.

Nach einem Tag auf dem Fluss schmeckt einfach alles … sogar Gemüse.

Schnell noch das Haustier versorgen …

und weiter geht’s!

Stadtbummel per Paddel

Wer mag, kann den Tagliamento auch auf den letzten 40 Kilometern bis zur Mündung ins Mittelmeer bei Bibione paddeln. Dann hat man es allerdings mit dem eingangs zitierten Pro­blem zu tun: Staustrecken. Daran ist zwar nur das minimale Gefälle schuld, nicht irgendwelche Wasserkraftbauten, doch das Ergebnis ist dasselbe: Es MUSS gepaddelt werden. Hinzu kommen Gegenwind (oft) und steile Ufer (immer), die den Blick in die Landschaft versperren. Kurzum: laaangweilig.

Wir widmen uns lieber des Vergnügens zweitem Teil. Einen Tag paddeln in Venedig. Mit Sack und Pack geht es in die nahe Lagunenstadt. Hier will das Familienoberhaupt der Rasselbande die Schönheit der Wasserstadt auf die unmittelbarste Weise vermitteln: per eigenem Wasserfahrzeug. Das ist derart spannend, dass ich es schon seit Jahren mache. Allerdings ohne Kinder, dafür im schnittigen Seekajak. Für unser Vorhaben braucht es daher Plan B. Der verwunschene Campingplatz San Nicolò auf dem Lido, sonst erste Adresse in Sachen Basislager, kommt nicht infrage, da man von dort auf dem Weg Richtung Stadtzentrum zwei stark frequentierte Kanäle queren muss. Das geht im schnellen Einer problemlos, doch in unserem schwerfälligen Familien-Canadier wollen wir das nicht riskieren. Als Alternative haben wir uns für zwei Nächte eine Ferienwohnung nahe der Rialto-Brücke gemietet. Und das Auto parken wir im Parkhaus nahe am Bahnhof. Zu Plan B kommt Trick 17: Luftboot statt Festboot. Denn mit Dachfracht kämen wir weder ins Parkhaus, noch könnten wir ein Festrumpfboot woanders deponieren als auf dem Auto.

»Sind die Tagestouristen weg, verwandelt sich Venedig in die schönste Stadt der Welt.«

Nachdem wir die Wohnung gefunden haben, streifen wir zunächst zu Fuß durch die Stadt. Es ist nach 20 Uhr und so ist der Großteil der Tagestouristen längst wieder per Vaporetto, dem venezianischen Wasserbus, in alle Himmelsrichtungen verschwunden. Jetzt, im Schein der Laternen, gehört die Prunkstadt den Einheimischen und ein paar Hundert Übernachtungsgästen. Wo man sich tagsüber stundenlang durch die Gassen staut, könnte man jetzt flott joggen gehen. Was auch viele machen. Ende Oktober findet in Venedig sogar ein Marathon statt, 42 Kilometer im Zickzack durch die Gassen. Wir laufen stattdessen hinter den Kindern her, die Scipios altes Kino aus »Herr der Diebe« suchen. Erst gegen Mitternacht geben sie auf, das Bett ruft. Vielleicht finden wir es ja morgen mit dem Kanu? Die Ausfahrt startet gegen zehn Uhr in der Nähe des Parkhauses. Schnell ist der Luftcanadier aufgeblasen und zu Wasser gelassen. Seine enorme Breite gibt uns ein sicheres Gefühl, als wir uns vorsichtig durch die Kanäle tasten. Mit den Nachwuchspiraten an Bord wählen wir eine defensive Route und meiden die Hotspots wie Canal Grande und Rialto-­Brücke. Diese sind nach einer neuen Verordnung, die das jahrzehntelang geduldete Paddeln mittlerweile reglementiert, ohnehin bis 15 Uhr tabu. Aber egal, denn uns interessieren mehr die Hinterhöfe als die herausgeputzten Prunkfassaden. Dort, wo der Zahn der Zeit unsaniert nagt, fragt man sich stets, wie die Veneter gegen Ende des Hochmittelalters nur auf die Idee kommen konnten, eine ganze Stadt auf Holzpfählen in den Sumpf zu setzen?

Artgerechter Stadtbummel de luxe – im eigenen Kanu durch die Lagunenstadt Venedig.

Hier passt keine Gondel durch … wir schon.

Damenschlüpfer voraus

Für uns jedenfalls scheint die Stadt wie gemacht. Mühelos gleiten wir auf grünem Wasser durch backsteingesäumte Kanäle, die sich oft auf wenige Meter verengen. Links und rechts ragen die Häuserschluchten empor und nur ab und an erhaschen wir einen Strahl Junisonne. Überall gibt es was zu entdecken. Sei es das halb versunkene Motorboot, das an einem verrottenden Seil auf den Untergang wartet, oder Damenschlüpfer, die knapp über Kopfhöhe an einer Wäscheleine zum Trocknen hängen. Der Blick fällt aber auch in paradiesische Innenhöfe, wo Springbrunnen plätschern und Topfpalmen ranken. Nach einer Rast an einem Straßencafé, in dem auch die Einheimischen ihren Spritz trinken, verschaffen wir uns einen Realitätscheck. Unverzagt reihen wir uns ein in den Strom der Touristen Richtung Markusplatz. Denn der, das muss fairerweise gesagt sein, ist aus Bootsperspektive nicht zu erfassen. Nach einer Stunde Geschiebe und Gedränge sind wir froh, wieder im Boot zu sitzen. Nach einem langen Tag auf dem Wasser, bei dem wir weder gekentert sind noch für ein Verkehrschaos gesorgt haben, grüßen uns sogar die Gondolieri respektvoll. Oder sind die bloß froh, dass nicht sie unsere Kinderbande in ihren prunkvollen Hochglanz-Gondeln spazieren fahren mussten?

Karte Tagliamento

Unterwegs auf Tagliamento und in Venedig

Vielen gilt der Tagliamento als König der Weitwanderflüsse in den Alpen. Dass er trotzdem recht unbekannt ist, liegt an den nur schwer nachvollziehbaren Pegelschwankungen. Hat man Pech mit dem Wasser, lockt das Paddelrevier Venedig als Alternative – oder als Nachschlag.
  • Beste Zeit:

    Die Wahrscheinlichkeit, einen brauchbaren Wasserstand anzutreffen, ist zwischen April und Mitte Juni am größten. Im Hochsommer liegen weite Strecken trocken, der Ausdruck «Kanuwandern» bekommt dann eine neue Bedeutung. 

  • Schwierigkeiten:

    Der Tagliamento bietet auf weiten Strecken bei normalen Wasserständen leichtes, unverblocktes Wildwasser (WW II) mit Kiesbankschwällen und einigen zackigen Kurven. Ein Wehr und zwei Wasserfassungen müssen umtragen werden.

  • Strecke:

    Brücke zwischen Carni­­a und Amaro (bei Tolmezz­­o) bis zur Mündung ins Meer bei Bibione: ca. 120 km. Bei wenig Wasser Ausstieg bei Dignano oder Madrisio.

  • Gefahren:

    Plötzlich ansteigender Wasserstand durch Starkregen weiter flussauf, dann Vorsicht beim Zelten auf Kiesinseln!

  • Pegel:

    Ca. 20 – 30 Kubik sind angesichts der starken Verteilung des Wassers in mehrere Arme wünschenswert. Die Pegel­angaben online sind zwar mit Vorsicht zu genießen, da sie sich vermutlich von Zeit zu Zeit verschieben, aber sie liefern einen Anhaltspunkt: ab 40 cm sollte es gehen, besser sind jedoch ein paar Zentimeter mehr.

  • Infos:

    Die derzeit besten weiterführenden Infos liefert  der Blog von Steve Flusswanderer unter www.flusswandern.at/tagliamento/


TEXT UND FOTOS/VIDEOS: Michael Neumann