Abenteuer Ostgrönland

Eine Kajakexpedition im Schatten des Inlandeises

Ein Abenteuerbericht aus der Globetrotter Community – von Martin Denk

»Ich bin süchtig nach Eis.«

– Martin Denk

Ich bin süchtig nach Eis. Nach den Farben türkis, weiß, blau, grün, bläulich, aquamarin und dem glasklar von Blackice. Nach den unzählbaren, märchenhaften Formen der Eisberge in den Fjorden und der offenen See: Kathedralen, Türme, Schlösser, Trutzburgen mit Durchbrüchen, Fabelwesen. Glattgewaschen von der Dünung, frisch gekalbt von den Gletschern mit leuchtenden Bruchkanten. Schollen und Flösse des letzten Winters, die mit dem kalten Ostgrönlandstrom in den Süden treiben und das Kap Farvel an der Südspitze Grönlands umrunden. Fragile Schönheiten, die nach einigen wenigen Wochen nicht mehr existieren. Ich bin auch süchtig nach den Geräuschen. Dem Klimpern, Klickern, Schaben und Rumpeln am Kajakrumpf, wenn ich mir einen Weg durch das Brucheis eines Eisfeldes bahne und dem Prickeln und Bitzeln der auftauchenden, aus dem schmelzenden Eis befreiten Luft.

Und das hat in letzter Konsequenz zu einer waschechten Kajakexpedition geführt, die wir im Sommer 2022 an der unbesiedelten, unwirtlichen, aber magischen Küste Ostgrönlands gemacht haben.

Tasiilaq – Nanortalik

Ostgrönland ist gekennzeichnet durch unzugängliche, schroffe Küsten, kilometerlange Gletscherabbrüche und vor allem dem Treibeis, das im Frühjahr mit dem Ostgrönlandstrom entlang der Küste in den Süden treibt. Etwas Grün findet sich nur im Inneren der Fjorde.

Beim Start im Juni in Tasiilaq liegen 1.356 km menschenleere Küstenlinie vor unserer kleinen Gruppe. Entlang der Küste gibt es keine Siedlungen, keinen Laden, keine Straßen und keine Netzverbindung – außer über Satellit. Arktische Wildnis und pure Abgeschiedenheit.

Wir sind mit dem Wissen unterwegs, dass während vieler Wochen im Radius zwischen 300 und 400km um uns herum nichts und niemand mehr ist. Mit allen damit verbundenen Konsequenzen – positiv, wie negativ. Das macht aber für mich persönlich genau den Reiz und die Herausforderung bei dieser Expedition aus. Dementsprechend konservativ ist auch unsere Planung, um Risiken zu minimieren. Trotzdem kommt es einige Male zu Situationen, bei denen wir schlichtweg Glück haben.

In den ersten Wochen sind wir im Frühjahrseis unterwegs und müssen uns einen Weg im Zickzack durch die Eisfelder suchen. Oft enden die schmalen Rinnen offenen Wassers im Nirgendwo, dann müssen Kajaks und Equipment über das Eis gezogen werden. Mit dem Treibeis kommt in der Regel auch der König der Arktis – der Eisbär – aus dem Norden. Ein Bärenbesuch am Camp, sowie viele frische Spuren in den Schneefeldern am Ufer, machen jeden Tag aufs Neue spannend. 

Seekajakfahren mit einem Gefühl wie in den Zentralalpen: die Gipfel der Kaps und die Bergkämme in den Fjorden ragen, aus der niedrigen Paddlerperspektive, schier endlos in den Himmel. Die landfallenden Gletscher des Inlandeises begleiten uns während der ganzen mehrwöchigen Expedition.

25. Juni 2022 / Isortoq, Ostgrönland

Heute hat für mich das eigentliche Abenteuer begonnen – wir sind frisch verproviantiert von Isortoq, der südlichsten Außensiedlung des Distrikts Tasiilaq gestartet. Sechs Tage mit überdurchschnittlich viel polarem Wintereis liegen seit unserem Aufbruch bereits hinter uns. Teilweise so dicht, dass wir die Kajaks über die Schollen ziehen mussten. Wir – das sind Susanne aus Dänemark, Klaus aus Norddeutschland und ich, Martin aus der Schweiz. Bis zur nächsten Siedlung – Aappilattoq in Südgrönland – liegen jetzt 1.200 km Küste vor uns: Kilometerlange Gletscherabbrüche, abweisende, von großen Fjorden durchbrochene Felsküsten. Menschenleere. Nur wenige vorgelagerte Inseln bieten auf dieser Strecke Schutz vor Dünung und Wind. Fixpunkte sind zwei verlassene Siedlungen nach der halben Distanz – und unser Depot. Terra incognita liegt vor uns.

Aappilattoq in Südgrönland: Diese erste Aussensiedlung wird erst nach sieben Wochen erreicht.

Depotplanung in Isortoq

Vor zwei Wochen haben wir in Tasiilaq noch Verpflegung und Brennstoff kommissioniert, in große blaue Tonnen für unser Proviantdepot gepackt und diese mit dem Versorgungsschiff nach Isortoq vorausgeschickt. 

Bei unserer Ankunft wartet Salo, ein einheimischer Jäger bereits auf uns und lädt uns zum Kaffee ein. Wir bekommen frisch gekochtes Robbenfleisch vorgesetzt (»Kajakfahrer brauchen Fleisch und Fett« so sein Argument), anschließend Kaffee – und dann geht die Diskussion wegen des Depots los. Und die ist lebhaft und umständlich, denn Salo spricht nur Ostgrönländisch, seine Frau ebenso. Aber seine Tochter lebt in Dänemark. Also starten wir eine Telefonkonferenz mit ihr: Salo diskutiert mit seiner Tochter, diese übersetzt ins Dänische. Susanne übersetzt für Klaus und mich weiter ins Englische. 

Schließlich einigen wir uns auf einen Standort, leider nach nur einem Drittel der Strecke zum ursprünglich geplanten Depot. Die Eisverhältnisse stellen unsere Planungen auf den Kopf. Das Problem ist jetzt, dass wir am Depot nicht mit leeren Kajaks ankommen. Wir können also nicht alles von dort mitnehmen, haben dann aber gut 300km geplant bis zur nächsten Siedlung. Salo warnt uns nochmals nachdrücklich vor Eisbären – erst letzte Woche wurde wieder einer unweit des Dorfes erlegt. Das große, weiße Fell hängt über einer Leine zum Trocknen. Salo wird das Depot dementsprechend erst ein bis zwei Tage vor unserer Ankunft einrichten, damit noch alles an Ort und Stelle ist, wenn wir dort ankommen. Kontakt halten wir über Satellit.

Aufbruch ins Ungewisse

Schon das Stauen der Boote mit dem frischen Proviant ist ein Kunststück für sich. Ich muss mich komplett reorganisieren, Packsäcke leeren und deren Inhalt in die kleinsten verbleibenden Lücken stopfen, damit kein Volumen verloren geht. Als wir schließlich an der Igsalik Inselgruppe vorbei sind, wird das Eis dichter. Die Kajaks laufen im spiegelglatten Wasser im Slalom um die immer enger liegenden Eisflösse herum, wir kommen bei einer Eisbedeckung von 6 bis 7 von 10 aber immer noch gut voran. Die Stille wird nur vom Zischen der Bugwelle, dem Eintauchen der Paddel und den Schmelzgeräuschen des tauenden Eises unterbrochen. Die Sonne brennt vom Himmel, durch die Wärme werden die Eisflösse des alten Wintereises mit jedem Tag dünner. Irgendwann, in nicht allzu ferner Zukunft, werden wir unsere Pausen nicht mehr auf dem Eis machen können.

Eine kleine Rast in der eindrucksvollen, ewigen Eislandschaft.

Kathedralen aus Eis

Am Nachmittag dann ein Highlight – eine wunderschöne, fragil wirkende Eiskathedrale mit einem gigantischen Tordurchbruch. Deren leuchtenden Farben im Nachmittagslicht – türkis, hellblau, aquamarin – ziehen mich seit jeher magisch an. Die sichtbare Höhe schätze ich auf gut 50m. Nur 10 – 15% eines Eisbergs sind je nach Dichte des Eises sichtbar – der Unterbau kann also leicht mehrere hundert Meter in die Tiefe reichen.

Bald darauf haben wir auf einer der letzten Inseln des Archipels unser Camp aufgeschlagen. Beim Abendspaziergang zum höchsten Punkt suchen wir uns einen Weg über verharschte Altschneefelder, teilweise noch gefrorenen Seen und schneefreie Granitbänder und haben schließlich einen guten Blick auf den 30 Kilometer breiten Eisgürtel in Richtung Osten auf die offene See, sowie über die Bucht in Richtung der Daneborg Insel nach Süd-Westen, unserem morgigen Ziel. Viel Treibeis, durchsetzt von kolossalen Eisbergen wartet auf uns. 

Mitten drin – Expeditionsalltag

Klaus hat uns vor einigen Tagen wegen Sehnenproblemen in der Schulter verlassen. Da Salo zu diesem Zeitpunkt bereits unterwegs war, um unser Depot einzurichten, konnte er mit ihm zurück nach Isortoq fahren, ein SAR Einsatz war nicht notwendig. Seitdem sind Susanne und ich nur noch zu zweit unterwegs.

Klaus verabschiedet sich und ich ziehe zusammen mit Susanne weiter.

Nach zwei Tagen Schlechtwetter an der Colberger Heide sind wir endlich wieder ein Stück weitergekommen. Es hat noch bis in den Morgen hinein geregnet. Während des Frühstücks ist es immer noch bewölkt und kalt, aber über den herabfallenden Gletschern tauchen bereits die ersten blauen Flecken am Himmel auf. Später am Vormittag, als wir das Camp abgebaut haben und die Kajaks stauen, sind die Wolkenlücken bereits erheblich größer und die Sonne malt die ersten Lichtkringel auf das Inlandseis. Das Wetter ist ruhig, kaum Wind. Eisbedeckung 4 bis 5 von 10, zunehmend große Eisberge in sämtlichen Formen und Farben auf dem Wasser, Dünung bei gut einem Meter.

Die nachmittägliche Suche nach einem Landeplatz und einem Platz für das Camp gestaltet sich seit Tagen immer schwieriger und ist mit großem zeitlichen Aufwand verbunden. Wir beginnen wieder früh nach einem geeigneten Platz Ausschau zu halten, aber es scheint aussichtslos. Wieder kilometerlange Gletscherabbrüche, gefolgt von Klippen und Steilufern, dann der nächsten Gletscher. Dort wo anlanden möglich wäre, geht es wegen des Swells nicht. Die Kajaks sind immer noch viel zu voll für Manöver à la Rockhopping, wir haben Verpflegung, Brennstoff und Ausrüstung für 40 Tage gestaut. Also paddeln wir gezwungenermaßen weiter. Mit Fortschreiten des Tages immer mehr im Schatten der schroff aufragenden Küstengebirge und namenlosen Gletschern. Irgendwann nach dem nächsten gescheiterten Landeversuch ist es Abend und die Blase drückt. Wir ziehen zwischen titanischen, weiß-türkis leuchtenden Eisbergen und dem gut 600m hohen Felssporn Taterakajik hinaus auf die offene See, ins Licht und relative Wärme. Dort legen wir auf einem großen Eisfloss nochmals eine längere Pause ein.

Von unserer Scholle sehen wir in Richtung Süden eine bergige Halbinsel, durchzogen von vielen Schneefeldern bis zur Wasserlinie: Aegirs Bucht. Ebenfalls gut zu erkennen sind flache Granitrippen, nicht allzu weit vom Ufer entfernt. Also steigen wir wieder in die Kajaks und nehmen die hoffentlich letzten elf bis 12 km für diesen Tag in Angriff. 

Nicht ganz zwei Stunden später haben wir unseren Landeplatz erreicht. Dort ist der Swell moderat, die Nordwestseite der Halbinsel schirmt uns von der Irmingersee ab. Aber die Klippen, die wir noch mit unserer ganzen Ausrüstung hinauf müssen, haben aus der Entfernung erheblich niedriger ausgesehen. Also noch eine letzte Challenge für heute – Equipment und Lebensmittel über 50 Höhenmeter auf das Felsplateau wuchten. Und heute müssen wir alle Packsäcke mit hinaufnehmen, da es hier und im weiten Umkreis nichts anderes gibt, um die Zelte zu befestigen. Das letzte Mal, dass wir die Zelte mit Heringen verankern konnten, ist bereits über zwei Wochen her. Seitdem nächtigen wir auf blankem Fels und sind schon froh, wenn wir einigermaßen ebenen Untergrund finden.

Aber der Vorteil an der Klippe ist, dass wir bis spät abends noch Sonne haben. Abends um neun sind die Zelte und der Bärenzaun aufgestellt und der Kocher brummt vergnügt vor sich hin. In der Bucht liegen viele auf Grund gelaufene Eisberge – von der Abendsonne orange-rosig angehaucht. Die Ostflanken der gegenüberliegenden Bergkette sind bereits im Schatten. Die Gletscher, die in die langgezogene Bucht kalben, leuchten in kaltem Blau unter einem wolkenlosen Himmel. Und dazu der aufgehende Mond über den Eisbergen.

Nach dem Essen machen wir unsere allabendliche Wanderung auf den nächsten markanten Punkt oberhalb des Camps. Die Sonne ist vor kurzem im Nordwesten hinter dem Inlandeis verschwunden; die große Bucht und der Nordatlantik spiegeln die Pastelltöne wieder, die von einigen Schleierwolken reflektiert werden: zartes Orange, ins Zitronige changierend, die Eisberge leuchten friedvoll grau-weiß. Die vorgelagerten Inseln und die Küstengebirge sind scharf umrissen wie Scherenschnitte, die Flanken in schwarze Schatten gehüllt. Und die Farben nuancieren weiter nach rosa, violett – die blaue Stunde ist da. Schließlich kommt leichter Wind aus Norden auf, es wird bitterkalt. Nach einem letzten Tee liegen wir kurz vor Mitternacht in den Schlafsäcken.

Besuch am Camp – der Bär ist los

Kurz darauf ist der Schlafsack warm geworden. Nur die Füße sind noch kalt, ich bin am eindösen. Plötzlich schnüffelt, nein, schnaubt es draußen. Susanne fragt aus dem anderen Zelt, ob ich das sei. Und dann bin ich sehr schnell hellwach. Apsis am Kopfende auf, Blick in die Runde – nichts. Schlafsack auf, Apsis am Fußende auf und – ein Eisbär. Er steht hinter dem Zelt von Susanne, am Eckpfosten des Bärenzauns, beschnüffelt diesen und versucht Witterung aufzunehmen. Adrenalinflash. Raus aus dem Schlafsack, die Daunenjacke übergestreift und ohne Socken oder Hosen in die Bergschuhe. In der einen Hand die .308 (Jagdgewehr), in der anderen das NICO Signalgerät. Der Bär versucht Witterung aufzunehmen, die Vorderpfoten gespreizt und den Kopf gesenkt, nach links und rechts pendelnd. Ich armschwenkend auf ihn zu, schreiend »Hau ab, mein Platz! Go away!«, damit Susanne die Möglichkeit bekommt das Zelt zu verlassen.

Eine unvergessliche Begegnung mit dem König der Arktis.

Der Bär, sichtlich überrascht, weicht einige Schritte zurück, richtet sich auf. Susanne ist mittlerweile aus dem Zelt, mit NICO und unserer Pumpgun. Als der Bär wieder zum Zaun kommt und Anstalten macht noch näher zu kommen, gebe ich einen Schuss mit dem NICO ab. Der Knall zerreißt die Stille, die Leuchtkugel steigt flammend auf. Der Bär ist davon sichtlich beeindruckt und flüchtet sich an die Wasserkante hinunter, wagt aber einige Minuten später noch einen zweiten Versuch. Einen zweiten Schuss brauchen wir nicht mehr abzugeben, wir können den König durch Rufen, Klatschen und Trillerpfeifen vertreiben. Schließlich gleitet der Bär ins Wasser und schwimmt gemächlich zwischen den Eisbergen durch, bis wir ihn nach einer Kursänderung nicht mehr sehen.

Bärenwache

Nachdem wir nicht wissen, ob unser Besucher nochmals zurückkommen wird beschließen wir, diese Nacht Bärenwache zu halten. Ich übernehme die erste Wache, an Schlaf ist sowieso nicht zu denken. Es dauert lange bis mein Puls wieder sinkt und das Adrenalin abgebaut ist. Mittlerweile ist es 2.30 Uhr morgens und die Morgendämmerung hat eingesetzt. Ich sitze in den Schlafsack gewickelt in der offenen Apsis des Zeltes. Frischen Kaffee in der Hand, Kamera und Fernglas in Griffweite. Die Eisberge schimmern in kaltem Blau, das erste Licht zaubert einen rosa Hauch auf die Gletscher und die umgebenden Gipfel, leichter Nordwind hat eingesetzt. Langsam zieht das Eis mit der auflaufenden Flut weiter in die Bucht. Auch der große Tafeleisberg hat sich im Laufe der Nacht um 130° gedreht. In einer halbe Stunde wecke ich Susanne. 

Und natürlich gibt es über die restlichen 800km noch viel mehr zu erzählen. Aber das sind andere Geschichten, die ich vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlichen kann.

Die Abenteurer Klaus (links), Martin (mittig) und Susanne (rechts).

Mehr aus Martins Expeditionstagebuch, mit noch mehr Bildern findest du hier:

Im Schatten des Inlandeises – der Vortrag

Wenn du Martin live erleben möchtest, kannst du das zum Beispiel in der Globetrotter-Filiale in Augsburg.

Wann:

20.01.2023

Beginn:

17:00 Uhr

Ort:

Annastraße 11, 86150 Augsburg

Weitere Termine:

12.01.2024 | Theater am Park | Berlin

13.01.2024 | Lange Nacht der Naturfotografie – 360° Festival | Potsdam

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Text: Martin Denk
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