Island im Seekajak

Eine begeisternde Seekajakwoche in menschenleerer Wildnis am Polarkreis – um das zu erleben, muss man keine krasse Expedition auf sich nehmen. Es genügen eine bunte Truppe, ein Guide mit All-inclusive-Qualitäten und ein verkanntes Paddlerparadies: die isländischen Westfjorde.

Klar ist Island toll! Ein Outdoorwunderland aus Feuer und Eis. Weit, wild und einsam. Mit den größten Gletschern Europas, mit Vulkanen, deren Namen kein Mensch aussprechen kann, und mit einer dramatisch schönen Küste. Aber zum Seekajakfahren? Ist der Nordatlantik nicht viel zu stürmisch? Die Wellen halsbrecherisch und das Wasser eisig? Die Mücken eine Plage und der Regen ein Dauerärgernis? Außerdem so dünn besiedelt – da bedar­f es doch sicher einer ausgefeilten Logistik, um nicht zu verhungern oder den Kältetod zu sterben? Oder etwa nicht?

Schon beim Blick auf eine Islandkarte ahnen wir, dass alles halb so kompliziert sein könnte. Da ragt ganz am Rand die Westfjorde in die Grönlandsee, ein weit verzweigtes System aus Landzungen und Meeres­armen. Ein Teil davon, die sogenannten Gletscherfjorde (»Jökulfirðir«), wird sogar fast vollständig von einer Halbinsel namens Hornstrandir umgeben und somit abgeschirmt gegen das offene Meer mit seinen Brechern. Außerde­m sehen wir auf der Karte Buchten und Landzungen, die sich als Zelt­plätze geradezu aufdrängen. Zwischen den Fjorden lassen eng gestaffelte Höhenlinien auf imposante Berge hoffen. Anzeichen von Zivilisation hin­gege­n muss man mit der Lupe suchen. Auf jeden Quadratkilometer West­fjorde kommt nicht einmal ein Einwohner. 

Der Hauptort Ísafjörður (rund 2600 Seelen) liegt praktischerweise direkt gegenüber den Gletscherfjorden – und verfügt über einen Flughafen, der mehrmals täglich aus Reykjavík angeflogen wird. Klingt nach easy Anreise. Und wie sieht’s mit Leihbooten aus? Anfrage bei Rúnar Karlsson, der in Ísa­fjörður die Outdooragentur Borea Adventures leitet. Rúnar schlägt uns prompt »the whole package« vor: ein sechstägiges Kajaktrekking, inklusive Motorboottransfer in die Gletscherfjorde, inklusive Vollverpflegung und Materia­l. Das Rundum-sorglos-Paket ohne Kartenwirrwarr, Kalorienmangel und sonstige Kataströphchen, die eine selbst organisierte Tour in fremdem Terrain meist so mit sich bringt (und die rückblickend den Stoff für ver­­klä­rende Heldengeschichten liefern). Männer von Flake, wir sind über 40 und haben abgestoßene Hörner. Warum also nicht die gesamte Orga in die Händ­e eines ebenso orts- wie fachkundigen Locals legen? Als Voraussetzung verlangt Rúna­r – neben dem Freischwimmer natürlich – »ein gewisses Maß an Paddeler­fahrung«, mehr nicht. Kann Island denn so easy sein?

Rückenwind mit Stärke 4? Dann Tarp setzen und ab durch die Mitte. 

Nach vier Stunden Direktflug landen wir am internationalen Flughafen von Reykjavík und nehmen – einen kurzen Bustransfer später – den Anschlussflieger nach Ísafjörður. Nach weiteren 40 Minuten kratzen die Tragflächen der Fokker beim Anflug fast an den Bergflanken. Warum erfahren wir erst jetzt, dass Ísafjörður zu den acht gefährlichsten Flughäfen der Welt gezählt wird? Während wir noch etwas zittrig sind, empfängt uns Rúnar unverfroren in kurzen Hosen. 13 Grad genügen offenbar, um bei Isländern Sommergefühle zu wecken. Andererseits sehen wir noch jede Menge Schnee, der teils bis auf Meereshöhe herabreicht. »Es hat im April noch mal fett geschneit, bis Ende Mai sind wir Skitouren gegangen«, sagt Rúnar. Der 41-Jährige hat fast sein ganzes Leben in den Westfjorden verbracht. Jetzt ist es Mitte Juni, und es will einfach nicht dunkel werden. Wir vier Bayern freuen uns narrisch darauf, die Mittsommernacht »in the middle of nowhere« zu verbringen. Unsere vier Paddel­freunde – zwei deutsch-isländische Paare, die in Reykjavík leben – tun so, als wäre das nichts Besonderes. Verwöhnte Nordländler, verwöhnte …

Am nächsten Morgen verteilt Rúnar Paddelklamotten und Trockensäcke an jene, die kein eigenes Material mitgebracht haben. Dann verfrachtet er uns auf ein Motorboot, das sonst als Wassertaxi die Fjorde abklappert, und zurrt die Plastik-Seekajaks oben drauf. Chefredakteur Neumann beäugt das Material fachmännisch und nickt: »Gute Boote.« Nach einer Stunde Vollgas legt das Motorschiff in Hesteyri an. Früher waren die Westfjorde ein Schauplatz von Fischerei, Walfang und Landwirtschaft. Als die Heringsschwärme ab den 1950er-Jahren ausblieben, zogen die Menschen fort. Nahe Hesteyri erinnert die Ruine einer Fischfabrik an lebhaftere Zeiten. Immer im Juli und August zieht es ein paar Wanderer nach Hornstrandir. Wohnen tut hier aber so gut wie niemand mehr. Höchstens zeitweise in einstigen Fischer- und Bauernhäusern, die als Feriendomizile reanimiert wurden.

Und der Bau eines Beach Resorts steht auch nicht zu befürchten: Die Wassertemperatur beträgt acht Grad. Das Gute daran: Die goldenen Bierdosen, die in stattlicher Anzahl mit den Packsäcken in den Ladeluken verschwunden sind, bleiben kühl. Nachteil: Wir müssen Trockenanzüge tragen – nur für den Fall, dass jemand kentert. Das wird jedoch im gesamten Tourenverlauf nicht vorkommen; die Kenterhalbe Flüssiggold bleibt aus. Außerdem wird meist die Sonne scheinen und kaum ein Tropfen Regen fallen, so dass wir in den Trockis höchstens von innen feucht werden. Und um gleich noch etwas vorwegzunehmen: Wir werden ohne einen einzigen Mückenstich heimkehren; es gibt weder Moskitos noch Kriebelmücken.

Rúnar kann sich bei der Einweisung kurzfassen. Auch unsere isländischen Freunde, die erst seit wenigen Monaten im Boot sitzen, haben sich bereits eine solide Paddeltechnik zugelegt und mit Aus- und Wiedereinstieg vertraut gemach­t. Das Wasser erinnert heute eher an Baggersee als an Nordatlantik. Also können wir unsere ganze Aufmerksamkeit den Vögeln widmen, die über uns hinwegflattern oder vor uns abtauchen. Ornithologie ist spleenig? Haben wir vor diesem Trip auch gedacht. Aber man muss kein Vogelfreak sein, um sein Herz an die putzigen Papageitaucher zu verlieren, das islän­dische Postkartenmotiv schlechthin. Oder an die eleganten Singschwäne, die uns paarweise mit trötenden Rufen eskortieren – und die von weit edlerem Gemüt sind als unsere heim(tück)ischen Höckerschwäne.

Von Weitem betrachtet wirken die Uferhänge der Westfjorde vielleicht eintönig. Nahezu ebenförmig wurden sie in der letzten Eiszeit von Gletscher­zungen in das Lavaplateau geschabt; stellenweise entstand eine Zickzack-Landschaft wie auf einem Toblerone-Riegel. Doch der Reiz liegt im Detail. Wenn wir unter Land paddeln, gibt’s immer was zu entdecken: In unzähligen Bächen rauscht Schmelzwasser herab. Wasserfälle kommen über die Hangkanten geschossen, an denen noch mächtige Schneewächten hängen. Quietschgrünes Moos markiert Quellen. Zwei Seeadler erheben sich aus den Flanken. Und hey, was schaut denn da aus dem Gras zu uns herüber? Ein Polar­fuchs, an dem noch helle Flecken des Winterfells flattern, läuft am Ufer mit uns mit. Als wir unser erstes Nachtlager, den verlassenen Bauernhof Kvíar, erreichen, beobachtet er neugierig, wie wir die Boote ausräumen. Könnt­e ja ein Leckerli für ihn abfallen … Doch das Einzige, was wir fallen lasse­n, sind die Bierdosen zum Kühlen in eine­m Haufen Restschnee.

Vorne schon braun, hinten noch weiß – Polarfüchse sind unsere steten Begleiter.

Unsere sonstigen Sachen tragen wir in das ehemalige Bauernhaus. Im Obergeschoss, wo noch Bücher aus den 1940er-Jahren liegen, breiten wir unser­e Schlafsäcke auf Stockbetten aus, die neueren Datums sind. Rúnar und seine Kollegen sind gerade dabei, Kvíar als Gruppenquartier für allerlei Toure­n herzurichten. Das Plumpsklo ist bereits neu (und für Plumpsklo-Verhältniss­e ein Palast), ebenso das Dach des Hauses. In einigen Räumen regier­t zwar noch der Staub. Aber wie heißt es doch: »Lage! Lage! Lage!« Die Sonne spielt schon seit dem Nachmittag Lichtlimbo: flacher, noch flacher und immer noch flacher … Unsere Nasen umweht der Anisduft des wild wuchernde­n Engelwurz’, der beim Abendessen einen feinen Salat abgibt.

Rúnar ist nicht nur unser Lotse, der die schönsten Winkel kennt und eine Menge zu erzählen weiß, sondern er ist auch der Smutje. Mal zaubert er Enchilada­s, mal Pasta, mal Geschnetzeltes – und von allem reichlich, manchmal sogar mehr, als acht hungrige Paddler verdrücken können. Freilich helfe­n wir beim Schnippeln und Abspülen. Doch die Hauptarbeit erledigt Rúna­r, so dass wir nach den bis zu 18 Kilometer langen Tagesetappen erst mal durchschnaufen können, ehe das Abendprogramm beginnt. Und das hat heute hohen Unterhaltungswert … 

Schöner wohnen: Egal ob im Zelt oder im Denkmal-Bauernhaus – die Moral der Truppe ist bombig.

Gegen 21 Uhr legt vor Kvíar ein Segelboot an und lädt ein knappes Dutzend deutscher und Schweizer Fototouristen ab. Die Lichtbildhauer sind auf der Suche nach dem halbzahmen Polarfuchs, der den gesamten Abend um unser Haus gestreunt ist. Kaum erblickt er aber die Paparazzi, trollt er sich. Da stehen sie nun mit ihren sündteuren Objektiven und schauen durchs Ofenrohr ins Gebirge. Nach Stunden des Wartens hat ein einheimischer Begleiter den Fuchs in seinem Bau aufgestöbert und treibt ihn vor die Kameras. Gelangweilt schnüffelt der Allesfresser am mitgebrachten Köder, einem toten Fisch, während die Fotografen in Knipstase verfallen. Ehe sie wieder davonschippern, belohnen wir unsere Gäste für ihre Geduld mit eine­r Runde Brennivín – einem isländischen Kümmelbrand, der ebenso gut Sodbrennivín heißen könnte.

Weil uns das Easy Living auf Kvíar gefällt, beschließen wir, eine weitere Nacht hierzubleiben und mit leichtem Gepäck eine Tagestour zu paddeln. Kurz nach dem Einsetzen glauben wir einen schlafenden Wal zu sichten und halten stramm drauf zu. »Hvalur!«, jubeln unsere isländischen Freunde. Doch es ist nur eine Kiesbank, die da aus dem Wasser schaut und von Vögeln angeflogen wird. Tja, so easy ist Whale Watching halt doch nicht. Die Hoffnung auf eine Walsichtung geben wir noch nicht auf. Eines jedoch mussten wir uns abschminken: Es wird – und dies ist wirklich das einzige Manko – auf unserer Tour keine heiße Quelle geben. Grund: Die Westfjorde sind geologisch gesehen mit 15 Millionen Jahren die älteste Landmasse Islands, mit nur noch vereinzelten vulkanischen Hotspots.

Und so steuern wir bei unserer Erkundung des Lónafjords auf einen Vulka­n zu, der längst erloschen ist, den Einbúi (zu Deutsch: Einsiedler). Der schroffe, schwarze Berg lässt den einstigen Lavafluss noch erahnen, wie eine versteinerte Eruption steht er da. Ringsum breitet sich ein schneebedeckter Höhenzug aus, von dem randvolle Schmelzwasserbäche in unseren Fjord fließen, so dass der Warmbadetag in immer weitere Ferne rückt und der Salzgehalt gegen null geht. Den Robben scheint’s zu schmecken. Immer wieder taucht ein runder Kopf auf und inspiziert uns durch Knopfaugen. Besonders kesse Exemplare begleiten uns Hunderte Meter weit: auftauchen, gucken, abtauche­n und gleich noch mal. Nett anzuschauen, aber letztlich bootlose Kunst. Im hintersten Winkel des Fjords legen wir an, machen Brotzeit und liege­n in der Sonne. Eine Stunde, anderthalb Stunden – easy going halt. Dabei fällt uns auf, dass in den abgeschirmten Gletscherfjorden keinerlei Müll schwimmt. Auch nicht in den Lagunen, die dem Lónafjord seinen Namen gabe­n: Herabstürzende Schneelawinen haben an den Stränden kreisrunde Becken ausgeformt.

Unweit von unserem Rastplatz steht der Berg Álfsfell, in dem eine Feenkönigin wohnen soll. »Früher hat man gesagt, dass verstorbene Kinder von der Feenkönigin aufgenommen und versorgt werden«, erzählt Rúnar. Um die Westfjorde ranken sich unzählige Geschichten über Feen und Trolle. Eine ebenso sagenhafte, aber reale Person war Fjalla-Eyvindur. »Eyvindur aus den Bergen« wurde im 18. Jahrhundert wegen Diebstahls ins karge Hochland verbann­t, wo er sich mit seiner Frau 20 Jahre lang unter unfassbar harten Umständen durchschlug. Ihre letzten Jahre verbrachten beide als brave Bauer­n – genau: in den Westfjorden. 

Also steuern wir nach der zweiten Nacht im Basecamp Kvíar den Raben­fjord an. Aber offensichtlich will Eyvindur die ewige Ruhe und schickt uns eine­n Wind entgegen, der die ropfringe pfeifen lässt. Die Isländer nehmen’s easy-peasy: Ist doch nur eine »logn sem fl´ytir sér«, eine »Wind­stille, die sich beeilt«. Tapfer ziehen wir am Stock, um das weiße Holzkreuz zu erreiche­n, das an der Stelle des einstigen Gehöfts steht und schon vom Wasse­r aus sichtbar ist. Kein schlechtes Plätzchen für eine letzte Ruhestätte. Bei der Rückfahrt spannt Rúnar eine Plastikplane als Segel aus, dahinter binden wir die See­kajaks aneinander und lassen die Steuer ins Wasser. Hey, hey Wicki­e! Doch die drei Windstärken genügen nicht, um ordentlich Fahrt aufzu­nehmen. Wäre ja auch zu easy gewesen …

Noch immer kein Wal in Sicht. Doch Rúnar verspricht uns, die besten Chancen bestünden am letzten Tag: im großen Fjord namens Ísafjarðardjúp. Dafür paddle ich versehentlich mitten in eine Eiderentenfamilie hinein und schäme mich sogleich. Denn während die Küken ans Ufer strampeln, flattert die Mutter panisch aufs offene Wasser. Anscheinend hat sie einen gebrochenen Flügel, das Abheben gelingt ihr nicht. Als ich Rúnar darauf aufmerksam mache, lächelt er über mein Mitleid: »Take it easy! Die Entenmutter simulier­t lediglich eine Verletzung, um dich von ihren Küken wegzulocken, indem sie sich als vermeintlich leichtes Opfer darstellt.« Gerissenes Luder, und doch so wertvoll. Manche Westfjordler ernten Daunen aus den Nestern der Eiderenten und ersetzen die hauchzarten Federbüschel durch Heu. Ge­reinig­t verkaufen sie das edelste aller Füllmaterialien dann an die Bettwarenindustrie. Preis pro Kilo: 1000 Euro.

Als wir in den Leirufjörður einbiegen, ändert sich mit einem Schlag die Farb­e des Wassers von Tiefblau in Hellbraun. Es sind Sedimente aus dem Schmelzwasser des Drangajökulls, des mit 20 Quadratkilometern fünftgrößten Gletscher­s Islands. Nur dank der Flut können wir überhaupt noch in diesen Fjord einfahren, der nach und nach verlandet. An der Mündung des Schmelzwasserflusses schlagen wir auf einem Landvorsprung unser Zeltlager auf. Unfass­bar, was Rúnar alles aus dem Bauch seines GFK-Boots zieht: den Koche­r, das Geschirr, den Großteil des Essens und sogar ein Tipi – ein was?! Rúna­r lacht über unsere Wortwahl, denn »Typpi« bedeutet auf Isländisch »Penis«. Gut, dann nennen wir halt das Gruppenzelt fortan nach skandi­navischer Sit­te »Lavvu«.

Nach dem Abendessen – Spaghetti mit frischer Gemüse-Salami-Sauce – wandern wir den Hang hinter unseren Zelten hinauf und blicken auf den wild mäandernden Fluss, der vom Gletscher in den Fjord fließt. »Wie Alaska – nur ohne Bären und Mücken«, sagt Michi gewohnt prägnant. Ein Seekajak­paradies liegt uns zu Füßen, und hinter jedem Fjord ein weiterer Fjord, den es zu erkunden lohnte. Höddi, ganz furchtloser Wikinger, klettert auf einen brüchige­n Felsgipfel. »Das sehen die Elfen gar nicht gerne!«, schreit ihm sein­e Landsfrau Brynja hinterher. So also drückt man es auf Island aus, dass jemand das Schicksal nicht herausfordern soll. Am nächsten Morgen fühlt sich Hödd­i kränklich. »Siehst du, das ist die Strafe der Elfen«, tadelt Brynja.

Unser Lebensrhythmus hat sich immer mehr nach hinten verschoben. Die weißen Nächte sind einfach zu schade, um sie zu verschlafen. Folglich wird es meist neun Uhr, ehe wir beim Frühstück zusammensitzen, und elf, bis wir die Boote wassern. Hetze? Nix da, ois easy! Erleichterte uns am Vortag die Flut die Einfahrt in den Leirufjörður, müssen wir die voll beladenen Kajaks nun bei Ebbe durch das Delta treideln, ehe wir einsteigen können. Wieder ist das Wette­r freundlich, der Wind mäßig und die See zahm. Plaisirpaddeln vom Aller­feinsten, und das 35 Kilometer unter dem Polarkreis. Freilich kann das Wetter hier auch anders. Doch bei all seinen Touren ist Rúnar noch nie fest-gesessen. Und wenn doch? Würde er einfach das Motorboot rufen. Außerdem: Die Berg­e fallen zwar steil ins Wasser ab, doch niemals mit Klippen, an denen man zerschellen könnte. Vielmehr gibt es eigentlich immer einen säumend­en Kiesstrand für sicheres Anlanden selbst bei höherem Wellengang. Leichter – nein: Easier geht’s kaum.

Gerade drohte das Ufer langweilig zu werden, da kommt die nächste Attraktion ums Eck gebogen: ein Felstor aus schwarzem Basaltgestein. Mit schrillem Gezeter beschweren sich die Möwen, dass wir unter ihren Nestern hindurchfahren. Wenige Kilometer weiter bekommen wir es beim Anlanden an unserem nächsten Nachtlager mit Küstenseeschwalben zu tun. Die legen ihre Eie­r ungeschützt auf den Kiesstrand und verscheuchen Eindringlinge mit kamikazeartigen Sturzflugattacken.

In der Bucht Grunnavík stehen noch einige alte Häuser, vor denen Eggen oder Ölöfen verrosten. »Für isländische Verhältnisse lebten die Menschen hier nicht schlecht«, erklärt Rúnar. »In den Westfjorden gab es massenhaft Fisch, Vogeleier und auch Wiesen für Schafe oder ein paar Kühe.« Nicht zu vergessen das Treibholz, das aus Sibirien angeschwemmt wird und im nahezu baumlosen Island Gold wert war. Fischfabriken in den umliegenden Fjorden boten Arbeit. Vor allem Frauen kochten dort Walspeck aus, um Lampenöl darau­s zu gewinnen. Heute sehen wir in Grunnavík keine Menschenseele. Auch die alte Kirche ist verrammelt. Die Todesdaten auf dem Friedhof reichen bis in die 1960er-Jahre. Ein paar Kindergräber sind darunter. Offenbar war das Leben hier doch nicht so easy.

Am vorletzten Tag verlassen wir das geschützte System der Gletscher­fjorde. Am zunehmenden Auf und Ab spüren wir die Dünung, die aus der Däne­markstraße in den Ísafjarðardjúp rollt. Schon nähern wir uns dem Kap Hoorn der gesamten Tour: einer Landzunge mit 800 Meter hohen Steil­wänden, die wir umrunden müssen und die nach Nordwesten hin aufs offen­e Meer zeigt. »Bei der letzten Tour hatte ich hier eine ziemliche Achterbahnfahrt mit anderthalb Meter hohen Wellen«, erzählt Rúnar. Wir hingegen können bei weitgehend ruhiger See im Vorbeipaddeln die Vogelfelsen bestaunen. Vor allem Möwen haben sich in den Nischen eingenistet. Die Bewohner der oberen Etagen zeichnen sich als winzige Punkte gegen den – wiede­r mal blauen – Himmel ab. Kurz darauf er­reiche­n wir unseren Brotzeitplatz: einen Wasserfall, der am Strand in einen Schneehaufen prasselt. Muss es hier Lawinen runtergehauen haben!

Während wir die Sandwiches mampfen und in Rúnars Studentenfuttertüte greifen, zieht vom offenen Meer Nebel in den Ísafjarðardjúp. Offenbar begleitet von frische­m Wind, denn die Schaumkronen rücken immer nähe­r. Schließlich bekommen auch wir den kühlen Seewind mit vier bis fünf Beaufort zu spüren. Zum Glück in Form von Rückenwind, der uns an der Küste entlang zu unserem nächsten Nachtlager am Ísafjarðardjúp treibt. Die weniger erfahrenen Paddler geben ihr Bestes, damit sie durch die von achtern heranrollenden Wellen nicht in stabile Seitenlage gebracht werden. Die Cracks unter uns geben Vollgas und surfen die ein oder andere Welle ab. 

So erreichen wir wie im Flug eine weite Wiese vor einem Wasserfall, desse­n Rauschen uns durch die Mittsommernacht begleiten wird. Es ist der 21. Juni, und es ist noch Bier da. Wenn Mutter Natur die Nacht zum Tag macht, nehmen wir diese Einladung gerne an. Grad lustig geht’s zu im Lavvu, und um 24 Uhr fallen wir uns in die Arme, als wäre Silvester.

Schon wieder Sonnenschein. Aber auch wieder ein strammer Wind. Und diesmal von der Seite, denn wir müssen den Ísafjarðardjúp queren. An seiner mit acht Kilometer engsten Stelle, aber immerhin. Zwischenstation auf Æðey. Das bedeutet Eiderinsel, weil hier – geschützt vor den Polarfüchsen – besonders viele Eiderenten brüten. Auf der Insel steht ein Leuchtturm, an dem wir drei Männer treffen. Es sind die ersten Menschen, die uns seit den Foto­touristen begegnen, und sie warten sämtliche 104 Leuchttürme an der isländischen Küste. Traumjob-Alarm!

Wir sind eher wegen der bis zu anderthalb Meter hohen Wellen alarmiert, die uns bei der Fjordquerung seitlich anlaufen. Zum ersten Mal schwört Rúna­r uns ein zusammenzubleiben. Doch selbst die Paddelnovizin Brynja reitet über die Wogen wie eine Rodeoqueen. Und plötzlich sehen wir eine Gischtwolke, die vom Wind über die Wellen getrieben wird. »Hvalur!« Diesma­l wirklich. Zunächst zieht der Rücken eines Buckelwals übers Wasser, dann winkt er uns mit der Schwanzflosse zu. Kreisch vor Glück. So meistern wir auch den Rest der gut einstündigen Querung. Rúnar lädt uns noch zum Kaffe­e ein und fährt uns im bereitgestellten Auto zurück nach Ísafjorður.

Bleibt nur eine Frage: Warum ist uns in all den Tagen kein einziger Tourenpaddler in diesem Paradies begegnet? Es ist doch so easy.


Info: Wildnispaddeln in den Westfjorden Islands

In den weitgehend abgeschirmten Gletscherfjorden Islands findet man ruhige Verhältnisse wie sonst kaum irgendwo in diesen Breiten. Es muss schon ziemlich winden, damit das Paddeln ungemütlich wird. Das Fjordsystem bietet genug Möglichkeiten für eine ganze Tourenwoche.

Revier: Nimmt man auf dem Hinweg das Wassertaxi (25 km und ziemlich exponiert), beträgt die längste Passage über offenes Wasser acht Kilometer (Rückquerung des Ísafjarðardjúp). Der Tidenhub beträgt knapp zwei Meter und erzeugt in den Gletscher­fjorden keine spürbaren Strömungen. Man kann also unabhängig vom Gezeitenkalender paddeln, Ausnahme ist der sehr flache Leirufjörður. In den Fjorden und an Land findet man totale Einsamkeit. Andererseits ist der Ort Ísafjörður nicht weit. Per Handy (die Netzabdeckung entlang der Fjorde ist passabel) lässt sich im Notfall relativ rasch Hilfe holen. Das Wassertaxi pendelt im Sommer regelmäßig zwischen den Fjorden, um Wanderer abzusetzen und aufzunehmen.

Beste Zeit: Das Wasser in den West­fjorden ist ganzjährig eisfrei. Im Prinzip bietet sich das Paddeln von April bis Oktober an. Die schönste Zeit, nicht zuletzt wegen der hellen Nächte, ist Juni bis einschließlich August. Mücken oder ähnliches Nervgetier gibt es das ganze Jahr über so gut wie gar nicht – Gott sei dank!

Die Tour: Borea Adventures (www.boreaadventures.com) bietet das beschriebene sechstägige Kajaktrekking unter dem Namen »Paddle in the Wild« an. Buchung: über die Islandexperten Arktische Abenteuer (www.arktischeabenteuer.de/Island/Gruppen/Kajaken/Paddleinthewild/). AA vermitteln auch günstige Flüge und schnüren ein Rundumpaket, wenn man die Paddeltour in einen längeren Islandurlaub einbauen möchte. Preis: ca. 1490 Euro pro Person. Im Preis inbegriffen sind: sämtliche Mahlzeiten, komplette Campingausrüstung (vom Besteck bis zu komfortablen Zweipersonenzelten), Abholung vom Flughafen Ísafjörður, Autotransfer Start/Schlusspunkt, Motorboottransfer in die Gletscherfjorde, komplette Paddelausrüstung (Boot, Paddel, Trockenanzug, Spritzdecke, Schwimmweste und Trockensäcke) sowie ein sehr erfahrener Guide, der auch die meiste Arbeit (navigieren, Gruppenzelt auf- und abbauen, kochen …) erledigt. Trotz aller Erleichterungen: Es ist und bleibt eine Tour in wilder Natur. Nicht ohne Grund geben die Tourguides eine umfassende und detaillierte Sicherheitseinweisung.

Ausrüstung: Getreu der Devise »dress for water« empfehlen wir angesichts des acht Grad kalten Wassers Trockenanzüge – auch auf die Gefahr hin, dass man in ihnen bei Sonnenschein schwitzt. Darunter ein oder zwei Lagen Fleece als Isolierung. In Neoprenanzügen friert man bei den Pausen, sobald auch nur ein Lüftchen geht. Daunenschlafsack, denn nachts wird’s frisch. Die Zeltplätze sind immer grasig-weich. Daheim lassen: Stirnlampe. Besser mitnehmen: Schlafbrille.

Text: Ingo Wilhelm
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