Radreise: Mit dem Bike bis Istanbul

Von Berlin bis an den Bosporus – einmal über die Alpen, quer durch den Balkan bis an den Rand von Asien. Anne Felmet hat für die gut 3600 Kilometer das Fahrrad gewählt und sich zwei Monate Zeit genommen.

Mit dem Fahrrad von Berlin nach Istanbul? Aber zwischendrin nimmst du den Zug?« – »Nein.« – »Fährst du mit dem E-Bike?« – »Nein.« – »Du bist doch verrückt!« – So etwa verliefen viele Gespräche im Vorfeld dieser Radreise.

Seit Jahren träume ich von einer längeren Radtour. Fernwanderungen bin ich mehrere gelaufen, doch diesmal will ich etwas anderes probieren, anders vorankommen, mich schneller fortbewegen. Das Fahrrad ist vertraut und doch neu. In Berlin lege ich fast alle Strecken mit dem Rad zurück und das angrenzende Brandenburg eignet sich hervorragend für Tagestouren. Aber meine bisher längste Radreise hat fünf Tage nicht überschritten. Zwei Monate im Sattel sind da noch mal was anderes. Ich nehme mir vor, es Stück für Stück anzugehen, einfach eine Tagestour nach der nächsten zu radeln und zu sehen, wie ich so vorankommen werde.

Radreise direkt ab der Haustür

Mehrere Abende mit langen Excel-Listen und GPX-Daten liegen hinter mir, dann geht es endlich los. Direkt vor der Haustür loszufahren hat einen besonderen Charme, nur ganz langsam verlasse ich die gewohnte Umgebung. Die ersten Kilometer fahre ich wöchentlich und auch die anfänglichen Strecken durch Brandenburg kenne ich zum Teil von Tagestouren. Der stückweise Aufbruch ins Neue fühlt sich angenehm an.

Trotzdem fordert mich die erste Woche wahrscheinlich am meisten. Ab Tag drei begleitet mich Dauerregen. Immer wieder plane ich um, weil alles pitschnass ist und ich an eine Nacht im Zelt gar nicht denken will. Die netten Pensionen, die mich mit offenen Türen empfangen, sind dabei ein wahrer Segen zum Aufwärmen und Kräftesammeln. Zum Regen gesellen sich die herausfordernden Höhen des Vogtlands. Ich stelle fest, dass die paar Hügel, die wir in Brandenburg haben, doch nicht ohne sind – das ständige Auf und Ab verlangt mir ganz schön was ab. Dabei bin ich erst am Anfang, wie soll ich es denn über die Alpen und durch die Gebirge in Osteuropa schaffen?

Immer etwas Neues: Die Freude am Umgewissen

Aber es gibt auch schöne Momente: tolle Natur, wenn ich abends erschöpft, aber zufrieden auf die Isomatte falle, die Erkenntnis, dass ich mich ein bisschen an die Hügel gewöhne. Und auch die Momente, wenn ich mich mit dem Regen abgefunden habe und er mich nicht mehr stört. Das Schönste ist vielleicht, dass ich die Freude an der Ungewissheit entdecke: Ich bin jeden Morgen aufs Neue gespannt, was mich heute erwartet.

Nach einer guten Woche sehe ich die Alpen am Horizont. Es geht durch das erste richtige Gebirge. Als Route wähle ich den Alpe-Adria-Radweg. Toll ausgebaut und beschildert zieht er sich größtenteils durch die Täler. Die Aussichten sind trotzdem beeindruckend und der ein oder andere Höhenmeter sammelt sich auch. Die ganz hohen Berge lassen sich aber zum Glück durch Tunnel – teilweise gibt es eigene Fahrradtunnel – umgehen. Wie bestellt, scheint ab Salzburg dauerhaft die Sonne. Und dann, nach nur wenigen Tagen, geht es auf einmal schon wieder bergab. Ich habe die Alpensüdseite erreicht. Es rollt gemütlich voran und Luft und Landschaft lassen das Mittelmeer schon erahnen. Mittlerweile hat sich eine Routine eingestellt. Meine Sachen haben einen festen Platz in den Taschen und ich einen guten Rhythmus aus Fahren und Pausen gefunden. Abends plane ich noch mal die genaue Route für den nächsten Tag.

»Wenn ich selber nicht weiterkomme, suche ich mir die nächste Fahrradwerkstatt. Jedes Mal beeindruckt mich die Unterstützung, die ich dort bekomme. «

In Ljubljana bleibe ich zwei Tage und erledige alles, was auf langen Reisen so ansteht. Eine Stange am Zelt ist gebrochen und muss getauscht werden. Die Wäsche gehört dringend mal in eine Waschmaschine. In einer kleinen Werkstatt lasse ich die Kassette an meinem Fahrrad wechseln, in der Hoffnung, dass ich mit etwas leichteren Gängen die kommenden Berge besser bewältige. Auch im weiteren Verlauf der Tour müssen immer mal wieder kleinere Reparaturen am Rad gemacht werden. Wenn ich selber nicht weiterkomme, suche ich mir die nächste Fahrradwerkstatt. Jedes Mal beeindruckt mich die Unterstützung, die ich dort bekomme. Ich warte nie länger als eine Stunde, bis ich mich wieder auf mein Rad setzen kann – obwohl die Auftragsbücher eigentlich voll und Wartezeiten von einer Woche die Norm sind. Zusätzlich gibt es jedes Mal noch Tipps für die besten Radstrecken in der jeweiligen Region.

Woche 3 der Radreise geht durch Kroatien

Die dritte Woche verbringe ich in Kroatien. Es dauert eine Weile, bis ich mich an die neue Umgebung gewöhne. Bis hinter die Alpen schien mir alles noch bekannt, ich sprach die Sprache und kannte die Region von vorherigen Reisen zumindest grob. Seit Slowenien ist das anders und so kommt es schon mal vor, dass ich fünf Kilometer zurückfahren muss, weil ich das Straßenschild, das auf Bauarbeiten mit Straßensperrung hinweist, nicht verstanden habe. Stück für Stück gewöhne ich mich daran, dass es jetzt mehr Unbekanntes gibt. Gleichzeitig verfalle ich der unglaublichen Schönheit Kroatiens.

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Eine Nacht an der Küste Kroatiens.

Ich fahre von Nationalpark zu Nationalpark und habe manchmal das Gefühl, ich wechsle dazwischen den Kontinent. Gerade blickte ich noch auf tiefblaue, mitten im Wald gelegene Seen, am nächsten Tag fahre ich durch karstiges Gebirge mit tollen Blicken aufs Meer und die kroatischen Inseln. Nach drei Wochen will ich endlich ans Meer. Bergab geht es raus aus den kroatischen Bergen. Ich habe das Gefühl, sie spucken mich in eine andere Welt: Unzählige Wohnmobile, riesige Campingplätze, stark befahrene Straßen bin ich nicht mehr gewohnt. Ein Bad im Meer, eine Nacht im Zelt an der Küste und dann zieht es mich schnell wieder in die angenehme Ruhe des kroatischen Hinterlands.

Abenteuer-Radreise: Wettrennen mit den Hunden am Straßenrand

Dass sich die Landschaft verändert, lässt sich unter anderem am Obst am Wegesrand festmachen. Nördlich der Alpen habe ich mich vor allem über Pflaumen und Äpfel gefreut, in Kroatien habe ich kiloweise Feigen gegessen und in Bosnien hängen jetzt die Granatäpfel wie dicke rote Weihnachtskugeln in den Bäumen. Bosnien bringt eine weitere Neuerung mit sich: Hunde. Sie mögen noch so tief schlafend am Straßenrand liegen, kommt ein Fahrrad vorbei, ist der Wettlauf samt wildem Bellen gewiss. Die ersten Begegnungen sind angsteinflößend, ich will der Situation entfliehen, fahre immer schneller, die Hunde werden immer wilder. Irgendwann verstehe ich, dass die Lösung in der Ruhe liegt. Langsam fahren oder anhalten und ruhig auf die Hunde einsprechen bewirkt Wunder. Auch das ein oder andere Leckerli in der Lenkertasche sorgt für Ablenkung und lässt mich in Ruhe weiterfahren.

Bosnien durchquere ich auf einer für Fahrräder wunderbar ausgebauten alten Bahntrasse. Wiederholt merke ich, dass ich die schönsten Wege meist gerade da finde, wo ich sie nicht erwartet hätte. Die Strecke zieht sich fast 200 Kilometer durch die Berge und trotzdem ist kaum jemand in dieser schönen Landschaft unterwegs.

Nach einem weiteren Abstecher zum Meer und einigen Kilometern Richtung Inland bin ich auf einmal schon in Montenegro. Montenegro trägt nicht ohne Grund den Berg im Namen. Es geht ordentlich nach oben, teilweise steil und direkt, teilweise Serpentine für Serpentine. Ich bewältige Anstiege, von denen ich mir vorher nicht hätte träumen lassen, dass ich sie hochkomme – ein Hoch auf die in Slowenien gewechselte Kassette –, und genieße traumhafte Aussichten. Ich entdecke ein Land, von dem ich vorher nichts wusste, das mir aber so gut gefällt, dass ich mir fest vornehme, noch mal wiederzukommen.

Besondere Einblicke einer Radreise

Auf die Berge Montenegros folgt das flache Hinterland Albaniens, in dem die Gegensätze nicht größer sein können. Neben großen Autos fahren Eselskarren und nicht selten versperren Hühner oder Kühe die Straße. Auch die Hauptstadt Tirana zeigt, dass hier Reichtum und Armut eng beieinanderliegen. Hier wird mir noch einmal deutlich, dass das Durchfahren von Städten mit dem Fahrrad ganz andere Einblicke bietet. Wo sonst nähert man sich Vorort für Vorort ganz langsam dem Zentrum?

»Griechenland begrüßt mich mit Regen und Kälte und mir wird klar, was ich in den letzten Wochen mit dem Wetter für ein Glück hatte.«

Durch die Berge verlasse ich Albanien und mache einen kurzen Schlenker nach Nordmazedonien. Der große Ohridsee liegt inmitten hoher Berge und man kann ihn wunderbar mit dem Fahrrad umrunden. Griechenland begrüßt mich mit Regen und Kälte und mir wird klar, was ich in den letzten Wochen mit dem Wetter für ein Glück hatte. Aus den Tiefen meiner Tasche krame ich Regensachen und Daunenjacke hervor und begrüße den Herbst.

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Ruhige Tourabschnitte durch Griechenland.

Ich genieße die ruhigen, aber wunderbar asphaltierten Straßen der griechischen Berge. Die hängen ziemlich viel in den Wolken, aber durch Wolken fahren ist auch ein Erlebnis, manchmal fühle ich mich wie im Flugzeug. Mit dem Fahrrad erkunde ich das Felsengebiet von Meteora, wo voreinst in beeindruckenden Höhen Klöster in die Felsen geschlagen wurden, und fahre dann am Meer entlang bis nach Thessaloniki. In Thessaloniki sitze ich zwei Tage Dauerregen aus und sammle meine Freundin ein, die mich auf dem letzten Teil der Tour begleiten wird.

Letzter Streckenabschnitt der Radreise zu zweit

Nun sind wir also zu zweit unterwegs und radeln entlang der griechischen Küste. Spontan machen wir einen Abstecher nach Thassos. Diese Insel mit ihren Felsküsten, einsamen Stränden und kleinen Dörfern begeistert uns. Mitte Oktober scheint Griechenland bereits in einen Winterschlaf gefallen, vor allem in den touristischen Gebieten ist nichts mehr los, auch Campingplätze sind inzwischen alle geschlossen. Einen Schlafplatz finden wir aber trotzdem immer. Oft dürfen wir in Gärten und Olivenhainen unser Zelt aufbauen. Dazu wird uns manchmal so viel Obst geschenkt, dass es uns definitiv nicht an Vitaminen mangelt.

Anne Felmet Auf dem letzten Abschnitt der Radreise bekommt Anne Felmet noch Gesellschaft.

Wir befinden uns auf der Zielgeraden. Zwei Tage geht es noch durch Griechenland, mal an der Küste entlang einsamer Strände, mal durchs Hinterland am Rande von Baumwoll- und Maisfeldern. Und das fast immer auf wunderbar ruhigen Straßen. Nur einmal wird ein Abschnitt auf einem Feldweg zum Verhängnis. Auf kurzer Strecke haben wir einen Platten nach dem anderen. Irgendwann wird uns klar, dass dies kein dummer Zufall ist, sondern an kleinen, unscheinbaren Pflanzen mit noch kleineren Dornen liegt. Unsere Reifen sind komplett zerstochen. So schnell wie möglich verlassen wir dieses Minenfeld und ziehen die nächsten vier Stunden Dornen aus den Mänteln.

Ziel erreicht: Die Atatürk-Brücke im Herzen Istanbuls

Die Türkei begrüßt mit einem pompösen Grenzübergang. Landschaftlich ändert sich nicht viel, aber die wuseligen Städte und der regelmäßige Ruf des Muezzins sind eine aufregende Abwechslung zum ruhigen Griechenland. Zwei Tage fahren wir durchs Hinterland und dann ist er da: der sagenumwobene Großstadtverkehr Istanbuls. Zwei weitere Tage brauchen wir, um ins Herz dieser Megastadt vorzudringen. Mal kämpfen wir uns über vierspurige Bundesstraßen, mal finden wir kleine Seitenstraßen, zum Luftholen. Und dann stehen wir auf einmal auf der Atatürk-Brücke im Herzen Istanbuls, die Hagia Sophia thront in der Ferne – wir sind am Ziel!

»Auch die Menschen bleiben in Erinnerung. Die anderen Radreisenden, die ich unterwegs getroffen habe. Mit denen man direkt ins Gespräch kommt, einen Teil seiner Geschichte teilt und vielleicht ein paar Kilometer zusammen fährt.«

Hinter mir liegen zwei Monate voller Erlebnisse. Vor allem die abwechslungsreiche Landschaft hat meine Erwartungen übertroffen. Die Mischung aus Meer, Wald und Bergen und fast jeden Tag die Möglichkeit, neu zu wählen, für was ich mich entscheide, war ein großes Gefühl von Freiheit. Aber auch die Menschen bleiben in Erinnerung. Die anderen Radreisenden, die ich unterwegs getroffen habe. Mit denen man direkt ins Gespräch kommt, einen Teil seiner Geschichte teilt und vielleicht ein paar Kilometer zusammen fährt. Aber auch die Einheimischen, wie die junge Polizistin in Albanien, die auf einmal neben meinem Rad stand, als ich aus dem Supermarkt kam. Sie erzählte mir, dass sie gut darauf aufgepasst hätte und in der Zeit davon geträumt hätte, selber irgendwann so eine Tour zu machen.