Microadventure: Feierabend-Paddeln

Stadt, Land, Fluss – zwei Globetrotter auf Feierabend- Expedition im Alster-Dschungel. Ein Microadventure vor den Toren Hamburgs.

Michael Neumann

Der Begriff Microadventure wurde vom britischen Abenteurer und Autor Alastair Humphreys geprägt. Er definiert es als Outdoorabenteuer mit Übernachtung, das für Leute mit einem normalen Leben leicht nachvollziehbar ist. Die New York Times sieht es ähnlich und schwärmt von Reisen vor der Haustür, bei denen man seine Heimat aus einer völlig neuen Perspektive erlebt. Dafür braucht es außer einer guten Idee nicht viel. Denn die Ausrüstung dafür schlummert bei den meisten Outdoorern sowieso in Schrank oder Keller, und die Reisekosten sind überschaubar, wenn man die ohnehin vorhandene ÖPNV-Monatskarte nutzt und im Rahmen des Erlaubten in der Natur biwakiert. So ein Microadventure ist zudem voll familienkompatibel – entweder ist man schnell wieder zurück oder man nimmt die Bande gleich mit, und lässt sich sogar wochentags durchexerzieren – getreu dem Motto: erst 9 to 5, dann 5 to 9.

Das ist auch der Plan von Ragna und David. Beide arbeiten bei Globetrotter in Hamburg und haben sich nach Feierabend verabredet, um den Oberlauf der Alster zu erkunden. Morgen wollen sie wieder pünktlich zurück sein, um weder einen Urlaubstag zu opfern noch das Überstundenkonto zu plündern.

Michael Neumann Ragna und David unterwegs ins Feierabend-Abenteuer.

Mit der S-Bahn geht es ohne Umsteigen von Barmbek mit der S1 raus nach Poppenbüttel. Schon hier weicht das hanseatische Großstadtflair der ewigen Landlust. Und einen Kilometer weiter, am Alsterwanderweg, wähnt man sich bereits am Amazonas statt in einem urbanen Ballungsraum. Die Alster gluckst mit ihrem klar-moorigen Wasser durch einen Tunnel aus Pflanzengrün, der der Junisonne nur wenige Gelegenheiten bietet, einmal verschämt hindurchzublinzeln.

Schnell ist der Hüftgurt festgezurrt und es geht stromauf in Richtung Norden. Mit jeder fortschreitenden Stunde lichten sich die Reihen der Spaziergänger und Radler und nach 20 Uhr sind die beiden mit dem all- gegenwärtigen Vogelgezwitscher allein an einem lauen Sommerabend.

Ihr Tagesziel ist der urige Campingplatz im Haselknick, wo Ragna und David eine »Parzelle« reserviert haben. Das freie Biwakieren, wie es besonders in den Bergen jenseits der 1500-Meter-Marke beliebt ist, bietet sich hier, wo die Hamburger Pfeffersäcke überall ihre Villen in den Wald gesetzt haben, nicht wirklich an. Am Ende wird man noch vom Sicherheitsdienst aus den schönsten Träumen gerissen.

Pünktlich zum Sonnenuntergang stehen schließlich die Zelte und nur kurze Zeit später prasselt das kleine Lagerfeuer in der mitgebrachten Feuerschale. Erste Sterne funkeln am Firmament und verdrängen die blaue Stunde. Die Idylle ist fast perfekt. Fast? Nun, das sei fairerweise erwähnt, der Campingplatz liegt in der Einflugschneise des Hamburger Flughafens, und erst mit Beginn des Nachtflugverbots um 23 Uhr kehrt die Ruhe, die die Bilder vorgaukeln, wirklich ein.

Dass es damit um sechs Uhr durch Turkish Airlines 1651 aus Istanbul auch schon wieder vorbei ist, ist allerdings egal, denn Davids Wecker klingelt bereits um fünf Uhr. Microadventure unter der Woche ist nichts für Langschläfer. Aber so ein heißer Schluck Kaffee beim ersten Hahnenschrei hat ja auch was für sich.

Michael Neumann Hey, so hatten wir nicht gewettet: Der Morgen beginnt mit einem kurzen Schauer.

Im Anschluss beginnt des Vergnügens zweiter Teil unserer Alsterexpedition: im Packraft auf dem Wasserweg zurück zur S-Bahn in Poppenbüttel. Packrafting? Was ist denn das schon wieder? Gemeint sind ultraleichte und ultraklein verpackbare Schlauch- boote, die leicht im Rucksack neben Isomatte und Schlafsack Platz finden. Mit einer derart amphibischen Erweiterung bekommt Wasser für den Wanderer plötzlich Balken und man kann vorher undenkbare Touren unternehmen – sei es im Sarek oder vor den Toren Hamburgs.

Doch bevor es aufs Wasser geht, ist erst mal Lungenvolumen gefragt, um die ultraleichten Schlauchboote auf Betriebsdruck zu bringen. Obwohl die zwei Globis paddeltechnisch absolute Novizen sind, braucht es nur wenige Paddelschläge, um sich mit den Packrafts vertraut zu machen. Und da gestern die komplette Paddelstrecke abgelaufen wurde, bestehen auch keine Fragezeichen hinsichtlich etwaiger Gefahren. Besonders Bäume, die unvermittelt nach uneinsehbaren Kurven auftauchen, könnten sonst schon mal erhöhten Pulsschlag sorgen.

Geräuschlos trägt die stellenweise nur knöcheltiefe Alster die Paddler dahin. Etwaige Hindernisse könnten so leicht »getreidelt« werden. Treideln meint das Laufen im Fluss, das Boot im Schlepp. Doch alle quer liegenden Bäume können mit einer kleinen Limboeinlage am Rand unterfahren werden, so dass die Füße trocken bleiben. Besonders begeisternd ist der Perspektivwechsel beim Paddeln. Obwohl der Wanderweg stets nah am Fluss läuft, ist er vom Wasser aus nur selten auszumachen. Vielmehr sieht man nur das Buschwerk am Ufer, die Baumkronen des umgebenden Waldes und den blauen Himmel, über den – Hamburg-typisch – weiße Wolkenfetzen jagen. Auch Spaziergänger sieht man zu dieser frühen Stunde keine. Sind wir hier wirklich noch in Norddeutschland, oder ist das schon Mittel-Schweden?

Geräuschlos gleiten die Boote alsterabwärts.

Nach zwei Stunden Paddelei sind die Arme lang und die Poppenbüttler Schleuse ist erreicht, unser Ausstieg. Während die Boote in der Sonne trocknen, wird auf der Parkbank ein zweites Frühstück zelebriert. Danach heißt es zisch und weg. Genauer: Ventil auf, Luft raus, zusammenfalten und ab in den Rucksack mit den Wildnisjachten. Außen künden jetzt nur noch die teilbaren Doppelpaddel von einem denkwürdigen Ausflug an den Amazonas, ähhhh, Alster. Zehn Minuten später sitzen Ragna und David in der S-Bahn, 30 Minuten später sind sie zurück im Büro. Dort wundern sich Kollegen und Kunden zwar über die leichte Lagerfeuernote der beiden, doch ansonsten kündet nur ein stilles Grinsen und die absolute Tiefenent- spannung vom erlebten Miniabenteuer.